Jerry Brotton, Weltkarten

„Schon seit den vor etwa 40.000 Jahren entstandenen ersten Felsgravuren erstellte der Mensch Karten, um sich in seiner räumlichen Umgebung einzuordnen. Somit geht es neben der Orientierung immer auch um die Existenz selbst.“ (7)

Wie der Mensch die Welt betrachtet ist gleichzeitig auch ein Spiegel über den Bewusstseinstand der Menschheit selbst. In seinen Weltkarten drückt sich die Sicht des Menschen auf die Welt aus, auf die Stellung des Menschen in der Welt und schließlich auf das Wesen des Menschen selbst. So zeichnet eine Karte neben dem geographischen Lebensraum in einer tieferen Schicht gleichsam die Ideen- und Kulturgeschichte der Menschheit selbst.

Jerry Broton erzählt die mehr als 40.000 Jahre alte Geschichte der Kartographie von den ersten Felszeichnungen, den Petroglyphen von Bedolina, bis zu den modernsten Kartenanamorphoten, in denen statistische Variable, wie z.B. die Bevölkerungszahl, proportional auf die Landflächen übertragen werden und eine entsprechend verzerrten Blick auf die Länder wiedergeben.

In fünf Kapiteln werden Beispiele der Kartographie in den verschiedenen Epochen und geographischen Räumen vorgestellt. Das 1. Kapitel „Antike und Mittelalter – 1500 v. Chr. – 1300 n. Chr.“ nimmt seinen Anfang bei den Petroglyphen von Bedolina in Italien, auf denen das darunterliegende Tal aufgezeichnet wurde. Im Gegensatz dazu hatte die Babylonische Weltkarte bereits die Darstellung der damals bekannten Welt zum Ziel, die gemeinsam mit dem mythologischen Hintergrund auf einer Tontafel Eingang fand. In die Weltkarte des Ptolemäus um 150 n. Chr. gingen die antiken Verfahren der Geometrie und Mathematik zur Darstellung der Erde ein. Seine Projektionsmethoden, die Vorbild für das nachfolgende Jahrtausend wurden, gingen als wichtiger Beitrag in die Geschichte der Kartografie ein.

Als weitere Karten der Antike und des Mittelalters finden sich u.a. die berühmte „Peutingersche Tafel“, die „Mosaikkarte von Madaba“, die „Dunhuang-Sternenkarte“ aus dem China des 7. Jahrhunderts n. Chr., die runde Weltkarte „Zur Freude dessen, den es in die Ferne zieht“ eines arabischen Geografen, die Sawley-Weltkarte und die Hereford-Karte aus der Zeit um 1300.

Im 2. Kapitel „Reisen und Entdeckungen – 1300 - 1570“ kommen die Veränderungen in der Kartographie durch die Entdeckungen der Neuzeit zum Ausdruck. Während der „Katalanische Weltatlas“ noch die mittelalterliche Weltsicht wiederspiegelt bietet die „Weltkarte des Juan de la Cosa“ einen ersten Einblick in die frühe europäische Erkundung des amerikanischen Kontinents. Aber auch Städteansichten wie die „Ansicht von Venedig“ oder der „Stadtplan von Imola“ von Leonardo da Vinici begeistern sowohl durch ihre Genauigkeit als auch ihre Darstellungskunst und Druckkunst.

Weitere interessante Karten des Kapitels sind Martin Waldseemüllers „Erste Karte von Amerika“, die „Karte des Piri Reis“, die Weltkarte des Diogo Ribeiro sowie eine Karte zu Thomas Morus Buch „Utopia“. Ausführlich behandelt wird die „Neue und erweiterte Darstellung des Erdkreises“ durch den berühmten Kartografen Gerard Mercator.

Das Kapitel „Neue Wege und Ideen – 1570 – 1750“ zeigt zunächst anhand der „Karte von Northumbria“ wie mit Hilfe der Triangulation die Genauigkeit der Karten zunahm. Für Lord Burghley, den Staatsekretär von Königin Elizabeth I. „waren die Karten ein maßgeblicher Faktor nationaler Sicherheit und er überprüfte und kommentierte jeden Erstdruck persönlich.“ (117) Die Darstellung neuer Länder und Meere in der Kartografie nimmt immer mehr zu wie z.B. „Die Molukken“, die erste gedruckte holländische Karte, die Meere und Küsten außerhalb Europas zeigt. Aber auch Karten aus China wie die „Große Weltkarte der Zehntausend Länder“ oder eine „Nautische Karte“, die auf den Expeditionen des chinesischen Admirals Zheng He beruhen.

Weitere dargestellte Karten sind u.a. die „Neue Karte der gesamten Welt“, der „Straßenatlas Britannia“, eine „Neuenglandkarte“, Jean Picards und Philippe de la Hires „Korrigierte Frankreichkarte“, Eusebio Franciso Kinos Karte „Landweg nach Kalifornien“ und Cassini de Thurys „Neue Frankreichkarte“, die mit Hilfe der entwickelten Triangulation und neuer Instrumente eine neue Genauigkeit und detailtreue zeigt.

Kapitel 4 „Thematische Karten 1750 - 1900“ zeigt die Verbindung von Geographie und Karten mit bestimmten Themen. Der Abschnitt „Die Kosmologie des Jainismus“ zeigt die grafische Darstellung der Kosmologie des Jainismus und die „Indische Weltkarte“ und die koreanische Karte von „Allem unter dem Himmel“ verbinden Geographie, Geschichte  und Mythologie. Im Gegensatz dazu steht die Genauigkeit und detailtreue von John Mitchells „Karte der Britischen Kolonien in Nordamerika“.

Weitere Karten sind William Smiths geologische Karte „Eine Beschreibung der Schichten von England und Wales mit Teilen Schottlands, eine „»Karte des Indianer-Territoriums«“, die „Cholera-Karte von John Snow“, eine Karte der „Sklavenpopulation in den Südstaaten der USA“, eine „Missionierungskarte“ aus der 2. H. des 19. Jahrhunderts für Afrika und eine „Armutskarte von London, 1898/99“.

Im letzten Kapitel „Moderne Kartografie – 1900 bis zur Gegenwart“ wird z.B. Albrecht Penck ehrgeiziger aber gescheiterter Versuch, eine „Internationale Weltkarte“ anzufertigen, vorgestellt. Ein Meisterwerk grafischen Designs stellt Harry Becks „U-Bahn-Plan von London“ dar, der in Folge auf der ganzen Welt bis heute Nachahmung fand. Ebenso beeindruckend zeigt sich die „Dymaxion-Weltkarte“ mit einer neuen Technik die kugelförmige Erde auf eine Fläche zu projizieren.

Zu den weiteren Karten der moderne zählen die „Karte der Mondlandungen“, die „Flächentreue Weltkarte“, „Der Meeresboden“, sowie Alighiero Boettis „Mappa“, der die Länder mit ihren jeweiligen Flaggen darstellte. Den Abschluss bilden Stephen Walters Karte „Nova Utopia“ und „Google Earth“, wo erstmals die Technologie des Clipp-Mappings eingesetzt worden war.

Jerry Brottons imposante Darstellung der Geschichte und Entwicklung der Kartografie von der Antike bis in die Gegenwart besticht durch sein beeindruckendes Bildmaterial und seine didaktische Aufbereitung. Neben einer Gesamtschau der einzelnen Karten, werden jeweils vergrößerte Ausschnitte detailliert erklärt. Brotton bietet eine Fülle an Hintergrundwissen und zeigt auf, wie sehr Kartografie, Vermessungstechnik, Darstellungsform u.a. mit der Vorstellungswelt des Menschen verändern.

Die einzelnen Karten werden sowohl im Detail beschrieben als auch in die Vorstellungswelt und in das Umfeld der Entstehungszeit gestellt. Neben biographischen Informationen zu den jeweiligen Geographen wird auch der historische Kontext zu den jeweiligen Karten vermittelt. Ein überaus empfehlenswertes und beeindruckendes Sachbuch zur Geschichte der Kartographie, das allen interessierten Leserinnen und Lesern wärmstens weiterempfohlen werden kann.

Jerry Brotton, Weltkarten. Meisterwerke der Kartografie von der Antike bis heute, übers. v. Claudia Theis-Passaro / Annegret Hunke-Wormser [Orig. Titel: Great Maps]
München: Dorling Kindersley Verlag 2015, 256 Seiten, 36,00 €, ISBN 978-3-8310-2829-0

 

Weiterführende Links:
Dorling Kindersley Verlag: Jerry Brotton, Weltkarten
Queen Mary University: Professor Jerry Brotton (engl.)

 

Andreas Markt-Huter, 09-12-2015

Bibliographie

AutorIn

Jerry Brotton

Buchtitel

Weltkarten. Meisterwerke der Kartografie von der Antike bis heute

Originaltitel

Great Maps

Erscheinungsort

München

Erscheinungsjahr

2015

Verlag

Dorling Kindersley

Übersetzung

Claudia Theis-Passaro / Annegret Hunke-Wormser

Seitenzahl

256

Preis in EUR

36,00

ISBN

978-3-8310-2829-0

Kurzbiographie AutorIn

Jerry Brotton ist Professor für Renaissancestudien an der Queen Mary University of London und Experte für die Geschichte der Kartografie.