Lindita Arapi, Schlüsselmädchen

In kaum einer europäischen Gegend machen sich die Menschen das Leben so schwer, wie in Albanien. Als Verschärfung des politischen Regulativs kommt oft noch die Sippschaft hinzu, der niemand entrinnt. Die Sippe nämlich weiß immer, was der oder die Einzelne tut, im Familiengroßverband gibt es kein Individuum.

Lindita Arapi erzählt anhand des Mädchens Lodja von der Unwirtlichkeit des sozialen Zusammenlebens in Albanien. Das Mädchen wird von der Umwelt ferngehalten, es darf nicht mit anderen spielen oder am Abend auf den Corso, jeden Tag blickt es aus dem kleinen Fenster in den Innenhof. Wir sind nicht so wie die anderen, lautet die lapidare Erklärung.

Später schauen der Heranwachsenden immer öfter Männer nach, wenn es zu einem kurzen Ausgang kommt, und wollen ihr Vögelchen. In der Nacht erscheint ein Gespenst, setzt sich an die Bettkante und lässt sich durch nichts vertreiben.

Nach einem Zeitsprung findet sich das Mädchen in Belgien wieder, wo es ein postgraduales Studium absolviert. Hier schremmt die junge Frau knapp an einem erotischen Erlebnis vorbei, aber sie ist zum Alleinsein erzogen worden.

Was für ein wahnsinniger Sexualcode (85) denkt sie sich, als sie ihren Lover verschickt, weil stets etwas anderes eintritt als sie im Gefühl hat. Ihr Wunsch ist immer, dass der Schlüssel im Schloss hängen bleibt, damit die Tür nicht aufgeht.

Wieder zu Hause in Albanien nimmt die Heldin die Erforschung mündlicher Geschichten und der jüngeren Zeitgeschichte in Angriff. Allmählich dämmert ihr, was es mit der Besonderheit auf sich hat. Im Hoxha-Regime sind Säuberungen an der Tagesordnung.

Säuberungswellen entstanden in der Regel oben, dann schwollen sie rasend schnell an und rissen mit, wer oder was ihnen unten in den Weg kam. (20)

Beim Versuch, die Geschichte ihrer Mutter zu rekonstruieren, die jahrelang aus Kummer verstummt ist, stößt sie auf deren Vater, der hingerichtet worden ist. Bei seiner öffentlichen Hinrichtung darf Papa noch einmal seine kleine Tochter umarmen und flüstert ihr eine Lebensaufgabe ins Ohr: Sie soll zur Schule gehen.

Die Mutter fasst die Tragödie in einer Erzählung ohne Schluss zusammen: „Wer als Welpe geprügelt worden ist, verlernt das Beißen. Ich kann nicht einmal bellen.“

Lodja fühlt sich wie in einem Video, das rückwärts abgespielt wird. Sie sieht ein Mädchen mit einem umgehängten Schlüssel im Hof spielen und wünscht sich, dass dieser Schlüssel zu irgendetwas passt.

Lindita Arapis Roman von einer geschundenen und ausgegrenzten Seele blättert das oft düstere Albanien von innen her auf. In den Individuen schlummert die Hoffnung, dass es ein Glück außerhalb der Sippschaften, Blutrachen, Männlichkeitsriten und verstümmelten Zeitgenossen geben mag.

Lindita Arapi, Schlüsselmädchen. Roman. A. d. Albanischen von Joachim Röhm. [Orig.: Vajzat me çelës në qafë, Tirana 2010].
Berlin: Dittrich 2012. (= Edition Balkan) 205 Seiten. EUR 20,40. ISBN 978-3-937717-85-2.

 

Weiterführender Link:
Dittrich-Verlag: Lindita Arapi, Schlüsselmädchen

 

Helmuth Schönauer, 02-01-2013

Bibliographie

AutorIn

Lindita Arapi

Buchtitel

Schlüsselmädchen

Originaltitel

Vajzat me çelës në qafë

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2012

Verlag

Dittrich-Verlag

Übersetzung

Joachim Röhm

Seitenzahl

205

Preis in EUR

20,40

ISBN

978-3-937717-85-2

Kurzbiographie AutorIn

Lindita Arapi, geb. 1972 in Albanien, lebt in Bonn.