Luke Williams, Das Echo der Zeit

Was wie eine Fernseh-Sendung oder eine Postille über Neo-Adelige dröhnt, ist der literarische Versuch, einen individuellen Ableger der jüngeren britischen Kolonialgeschichte zu erzählen.

Luke Williams rückt ein Menschenleben aus der „Sicht“ von Geräuschen, Tönen, Stimmen und deren Echos in den Mittelpunkt. Zu diesem Zweck ist die Heldin Evie Steppman mit einem geradezu überirdisch feinen Gehör ausgestattet und hört ein halbes Jahrhundert ab nach dem Motto: „Die Augen kann man verschließen, die Ohren nicht.“(164)

Die ideale Wohnung ist für Evie die Gebärmutter, aus der sie erst spät und widerwillig aufbricht und somit den Tod der Mutter auslöst. Geburt und Tod sind für die Heldin von der ersten Sekunde an untrennbar miteinander verbunden.

Schon während ihres Aufenthaltes in der Gebärmutterwohnung lernt die Protagonistin die beste Literaturgeschichte kennen, weil der Vater außerhalb der Bauchdecke ständig vorliest. Er formuliert auch kühne Thesen, wobei er immer vor dem Höhepunkt abbricht, so dass diese der Fötus fertig denken kann.

Als der Roman einsetzt ist die Heldin schon gut über fünfzig, sie sitzt in einem schottischen Mansarden-Zimmerchen, das sie wie eine Gebärmutter eingerichtet hat. Jetzt versucht sie alles aufzuschreiben, was als Geräusch einst an ihr Ohr gedrungen ist, die Zeit lässt sich nur dokumentieren, indem man ihr Echo aufzeichnet.

Manchmal weiß ich erst, was ich denke, wenn ich darüber in mein Tagebuch schreibe. (381)

Zudem macht sich ein Tinnitus bemerkbar, Evie ist ständig unterwegs, das Radio im Ohr zu finden und auszuschalten. „Die Vergangenheit aufschreiben, bevor sie zum Tinnitus wird.“ (18)

Die Stationen der Erinnerung führen zurück nach Lagos, wo der Vater als Kolonialbeamter gearbeitet hat. Kindermädchen sind nett oder böse, man merkt es an ihren Geräuschen. Eine wunderbare Freundschaft zu einem Fäkalien-Vorarbeiter gibt bemerkenswerte Einblicke in die Welt des Geruchs.

Ein jeder […] sei wie sein Spiegelbild in der Lagune, doppelgesichtig und von Wind und Gezeiten verstreut. (301)

Nach der Unabhängigkeit Nigerias wird Schottland plötzlich zum Exil. Evie findet sich nur mühsam zurecht, ihre Freundin Damira führt sie halb erotisiert nach Amerika, aber Damira liebt Evie wohl nicht wirklich, dafür darf sie ihr Tagebuch abschreiben.

Luke Williams evoziert tatsächlich das Echo der Zeit, indem er die Protagonistin beispielsweise Tagebücher abschreiben lässt, um die Identität der anderen Person zu verstehen, die Heldin legt eine Liste von Geräuschen an, von a) Geräusche die von mir kommen bis z) Geräusche, die sich nicht vergleichen lassen. (262) Als Leser wird man allmählich in dieser abgekapselten Hör-Welt der Heldin gefangen und erlebt ein halbes Jahrhundert Weltgeschehen, abgemischt im persönlichen Gehör.

Luke Williams, Das Echo der Zeit. Roman. A. d. Engl. von Eike Schönfeld. [Orig.: The Echo Chamber, London 2011].
Hamburg: Hoffmann und Campe 2012. 477 Seiten. EUR 25,70. ISBN 978-3-455-40373-2.

 

Weiterführende Links:
Hoffmann und Campe: Luke Williams: Das Echo der Zeit

 

Helmuth Schönauer, 02-01-2013

Bibliographie

AutorIn

Luke Williams

Buchtitel

Das Echo der Zeit

Originaltitel

The Echo Chamber

Erscheinungsort

Hamburg

Erscheinungsjahr

2012

Verlag

Hoffmann und Campe

Übersetzung

Eike Schönfeld

Seitenzahl

477

Preis in EUR

25,70

ISBN

978-3-455-40373-2

Kurzbiographie AutorIn

Luke Williams, geb. 1977 in Schottland, lebt in London und Edinburgh.