Maria Matios, Darina, die Süße

Lassen sich Ungeheuerlichkeiten als Poesie besingen? Kann eine Geschichte stumm erzählt werden? Haben kontinentale politische Verschiebungen in einer einzigen Seele Platz?

Maria Matios Roman von der „süßen Darina“ spielt in der entlegenen Bukowina, die einst in der Habsburgermonarchie noch vergeblich auf Anweisungen aus Wien wartete, als die Monarchie schon längst zerfallen war. Diese Gegend wird oft als sanft und süß bezeichnet, aber es bedeutet auch eigenwillig. So wird auch Darina, wegen ihrer Eigentümlichkeit und ihrem abgeschotteten Wesen als die Süße bezeichnet.

Über der Geschichte des Jahrhunderts und der persönlichen Biographie liegt das Diktum der Autorin Maria Matios: „Die Geschichte kämpft gegen jeden einzelnen Menschen.“

In drei Schritten erfährt der Leser, was es mit dem Verstummen Darinas auf sich hat. Im ersten Teil hat sich das Dorf mit der sonderbaren Frau abgefunden. In kleinen Anspielungen wird darauf hingewiesen, dass ihr das Schicksal arg mitgespielt hat. Wer nicht ganz richtig ist im Kopf ist ein Gotteskind. Prägend sind diese ungeheuren Kopfschmerzen und die Marotte, dass Darina durchdreht, wenn man ihr Süßigkeiten zusteckt.

Der mittlere Teil erzählt von jener Lebensphase mit dem erotischen Sonderling Iwan, der mit seinem Maultrommelspiel alle verhext. Dabei schlafen Darina und der Zugeh-Mann getrennt, wie das Dorf bald einmal ausspioniert. Iwan bringt die stumme Frau auch kurz aus dem Dorf weg in die Kreisstadt, wo er sie untersuchen lässt. Der Befund ist sehr klug: „Sie ist nicht stumm, sie redet nur nicht.“ Schließlich hat die Süße wieder genug und schickt Iwan fort. Wer ist schuld? Das Schicksal und die Menschen.

Im längsten Schlusskapitel tut sich schließlich kund, was mit Darina geschehen ist. In jener Zeit um 1940 herum, als das Dorf oft jede Woche den Besitzer und die Besatzer wechselt, kommt Darina zur Welt. Schließlich bleiben die Sowjets und es kommt im Stalinismus zu einer ungeheuren Zuspitzung. Das Kind Darina verrät den Vater für einen Lutscher und ist seither stumm und auf Süßigkeiten allergisch. Die Mutter weint bei jeder Gelegenheit im Voraus, wie sie es nennt.

Maria Matios erzählt mit kargen Dorfbildern und verknappten Gesprächsfetzen vom Rande der Zeit und der Welt. Alles, was in großen Geschichtsüberblicken analysiert ist, spielt sich hier auf engstem Raum ab, die Geschichte geht tatsächlich gegen die Individuen vor, und am Rand können sie sich nicht einmal verstecken. - Poetisch grausam und berührend.

Maria Matios, Darina die Süße. Roman. Mit einem Nachwort von Andrej Kurkow. A.d.Ukrain. von Claudia Dathe. [Orig. 2003].
Innsbruck: Haymon 2013. 232 Seiten. EUR 19,90. ISBN 978-3-7099-7006-5.

 

Weiterführende Links:
Haymon-Verlag: Maria Matios, Darina die Süße
Wikipedia: Maria Matios

 

Helmuth Schönauer, 02-01-13

Bibliographie

AutorIn

Maria Matios

Buchtitel

Darina die Süße

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2013

Verlag

Haymon-Verlag

Übersetzung

Claudia Dathe

Seitenzahl

232

Preis in EUR

19,90

ISBN

978-3-7099-7006-5

Kurzbiographie AutorIn

Maria Matios, geb. 1959 in Rostoky in der Bukowina, lebt in Kiew.