Robert Sedlaczek, Die Tante Jolesch und ihre Zeit

Die Sprache ist schlauer als die Menschen, die sie benützen. Manchmal verzichtet sie gar auf die Menschen und erzählt selbst eine Geschichte.

Der Sprachforscher und „Aufs-Maul-Schauer“ Robert Sedlaczek befasst sich seit Jahrzehnten mit Sprichwörtern, Mundarten, verschollenen Fügungen und entlegenen Vokabeln. Seine Wörterbücher des Alltags und Wortgeschichten gehören zur Fixausstattung jedes hintersinnigen Sprachanwenders.

In seiner aktuellen Recherche geht Robert Sedlaczek mit seinem Forscherteam der Meta-Welt der Tante Jolesch nach. Friedrich Torberg hat 1975 die Anekdotensammlung „Die Tante Jolesch oder der Untergang des Abendlandes in Anekdoten“ herausgebracht.

Das Buch wird ein Bestseller, der Begriff Tante Jolesch macht sich selbständig und gilt als magisches Sprachreich, in dem Halbwahrheiten zu Lebensweisheiten ausgewalzt werden. „Was ein Mann schöner is wie ein Aff, is ein Luxus“ oder „Gott soll einen hüten vor allem, was noch ein Glück ist“ sind vielleicht die bekanntesten Pointen.

Auch der Buch-Titel ist raffiniert mehrdeutig, es kann sein, dass sich das kaputte Abendland durch Anekdoten darstellen lässt, es ist aber auch möglich, dass das Abendland erst durch solche Anekdoten untergeht.

In seinen Recherchen geht der Autor den Spuren des legendären Wiener Rechtsanwalts Sperber nach, der sich als Hauptfaden durch die „Tante Jolesch“ schlängelt. Sperber war berüchtigt für seine Sprüche bei Gericht, mit denen er die verquersten Fälle auflösen konnte.

Seine politische Haltung brachte ihn im Ständestaat bald einmal ins Polizeigefängnis, aus dem er bedauernd schreibt, dass er keine ordentliche Tinte zur Verfügung habe. In der Recherche wird anhand dieses Rechtsanwaltes die politische Welt der dreißiger Jahre dargelegt, die unter anderem mit Bruno Kreisky oder mit dem Journalisten Egon Erwin Kisch vertreten ist.

Eine zweite Spur führt zu den Joleschs nach Iglau, wo offensichtlich viele der Jolesch-Sprüche beheimatet sind.

Viele dieser Pointen sind offensichtlich Allgemeingut im großbürgerlichen, jüdischen Milieu Böhmens und Mährens. (75)

Der Hintergrund dieses seltsamen Buches lässt eine versunkene, vertriebene oder auch ausgelöschte Welt erahnen. Anhand der pointierten Sprache, die überlebt hat, werden ihre Benützer und Träger ausfindig gemacht und dadurch zu den wahren Helden dieser Anekdoten. Robert Sedlaczek formuliert ein Stück jüngere Zeitgeschichte, indem er deren Sprache interviewt und „zur Rede stellt“. Ein vergnügliches Leseerlebnis über eine ganz und gar nicht vergnügliche Zeit.

Robert Sedlaczek, Die Tante Jolesch und ihre Zeit. Eine Recherche.
In Zusammenarbeit mit Melita Sedlaczek und Wolfgang Mayr.
Innsbruck: Haymon 2013. 291 Seiten. EUR 19,90. ISBN 978-3-7099-7069-0

 

Weiterführender Link:
Haymon-Verlag: Robert Sedlaczek, Die Tante Jolesch und ihre Zeit

 

Helmuth Schönauer, 19-06-2013

Bibliographie

AutorIn

Robert Sedlaczek

Buchtitel

Die Tante Jolesch und ihre Zeit. Eine Recherche

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2013

Verlag

Haymon Verlag

Seitenzahl

291

Preis in EUR

19,90

ISBN

978-3-7099-7069-0

Kurzbiographie AutorIn

Robert Sedlaczek, geb 1952 in Wien, lebt in Wien.