Vladimir Sorokin, Telluria

Zukunftsprognosen werden meist von jener Stimmung getragen, die gerade in der Gegenwart als virulent empfunden werden. Prognostische Romane sagen also immer etwas über die Gegenwart aus.

Vladimir Sorokins „Telluria“ ist ein Stück Apokalypse, das in etwa zwanzig Jahren aus dem Kontinent Eurasien für den Roman herausgebrochen ist. Die gegenwärtigen Staatsgefüge sind zu Grunde gegangen und in kleine Gebiete mit Warlords oder sonstigen oligarchischen Kommandanten zerfallen. Manche Banden sind völlig neu und aus einem Gothic-Gruselkabinett gestiegen, andere zeigen Spuren von Taliban oder sonstigen Schreckgespenstern der Gegenwart.

Über weite Strecken hat Vladimir Sorokin mit dem historischen Geodreieck die Vergangenheit Europas, des Kaukasus und Russlands in die Zukunft projiziert mit dem Ergebnis, dass beinahe mittelalterliche politische Strukturen vorherrschen. Faustrecht, Ritterorden, Reiterhorden, Hasardeure und Marodeure bestimmen die Szenerie. Ihre Protagonisten haben sich seltsame Rituale der Kommunikation angeeignet, um die Bevölkerung zu terrorisieren, und sei es auch nur mit barbarischen Kunstformen.

So kommen in den fünfzig Kapiteln beinahe ebenso viele Erzähl-Methoden zum Einsatz, vom Schöpfungsbericht, über die Folterdokumentation bis zur Lagebesprechung für eine futuristische Schlacht. „Sie haben die Erektion der Sieger!“ (44) heißt es einmal psychoanalytisch, dann wieder wird der erste Rosenmontag nach der Herrschaft der Taliban in Köln wie eine Talkshow mit kompetenten Narren auf Sendung gejagt.

Wenn es etwas Gemeinsames gibt, was diese disparaten Geschichts-Einsprengsel noch auf einer physikalischen Ebene halten könnte, dann ist es die Mode-Droge Tellur. In einer Hymne werden Tellur und seine Wirkung ausführlich besungen. (229) Selbstverständlich bedarf es eines eigenen Rituals, um die Droge auskosten zu dürfen, sie wird einfach als Nagel aus einer Tellur-Legierung in den Kopf geschlagen und löst im Hirn sofort den besten Wahnsinn aus.

Längst beziehen die Vereinigten Staaten des Urals, die aus dem wahabitischen Frühling hervorgegangen sind, ihre Identität aus dem seltsamen Metall, das die Welt verrückt machen kann. In großer Reinheit abgebaut wird es übrigens in einer eigenen Republik im Altei-Gebirge, dabei heißt Republik natürlich Terror, denn es gibt keine „res publica“ mehr.

Einmal reitet ein kriegerischer Held durch die Steppe wie einst Dschingis Kahn und träumt von der großen Freiheit, die es mit und ohne Tellur am Pferd gibt. Die Oligarchen der Gegend setzen sich immer wieder zusammen und verwirklichen ihre Träume mit stalinistischer Härte. (392)

Wladimir Sorokins Apokalypse ist vielleicht deshalb so ergreifend, weil er letztlich nur das Material der gegenwärtigen Kriegschronik neu arrangiert. Ein paar geographische Gegebenheiten sind verändert, ein paar historische Verrücktheiten mit neuer Logik unterlegt, aber sonst ist die schreckliche Zukunft so, wie wir an manchen Tagen bereits die Gegenwart beschreiben. Ein Glossar mit Fachausdrücken aus entlegenen Kulturen des Altai, Westchinas und des Kaukasus verstärken den Eindruck, dass es sich um eine Chronik aus der Zukunft handeln könnte. - Wie jede prognostische Literatur ist Telluria riskant, wahr und aufrüttelnd.

Vladimir Sorokin, Telluria. Roman. A. d. Russ. von Kollektiv Hammer und Nagel. [Orig.: ????????, 2013].
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2015, 413 Seiten, 23,70 €, ISBN 978-3-462-04811-7

 

Weiterführende Links:
Kiepenheuer & Witsch Verlag: Vladimir Sorokin, Telluria
Wikipedia: Vladimir Sorokin

 

Helmuth Schönauer, 06-09-2015

Bibliographie

AutorIn

Vladimir Sorokin

Buchtitel

Telluria

Originaltitel

Теллурия

Erscheinungsort

Köln

Erscheinungsjahr

2015

Verlag

Kiepenheuer & Witsch Verlag

Übersetzung

Kollektiv Hammer und Nagel

Seitenzahl

413

Preis in EUR

23,70

ISBN

978-3-462-04811-7

Kurzbiographie AutorIn

Vladimir Sorokin, geb.1955 in Bykowo, lebt in Moskau und Berlin.