William H. Gass, Der Tunnel

Einem Massiv lässt sich in der Geologie nur durch einen Tunnel begegnen, ähnlich geht es in der Erzählkunst zu: Wenn etwas zu hart ist für die oberflächliche Darstellung, muss man semantisch unten durch.

William H. Gass lässt seinen Protagonisten nichts Geringeres versuchen, als ihn in ein Loch durch das Nazi-Deutschland zu schicken, freilich in einer ziemlich granitenen Form. Von der Handlung her geht es noch halbwegs überschaubar zu, ein gewisser Kohler hat eine Germanisten-Arbeit geschrieben „Schuld und Unschuld in Hitlerdeutschland“.

Aber als er alles zusammenbinden will, explodiert ihm die Arbeit, indem sie ihn selbst in Frage stellt mit dem Gefühl von „ einem jahrelangen Winter von Scheiße wie Graupel aus einem eisigen Arschloch“ (46)

Anstatt sich um ein kluges Vorwort zu kümmern, schweift Kohler in sich selbst aus. „Die Stadt in der ich geboren bin, entstand am Schnittpunkt zweier Eisenbahngeleise.“ (164) „Es gibt letztlich keine Sicherheit vor einem selbst.“ (176) Manchmal tarnen sich die Gedanken als Ehekrise, vielleicht sollte man die Arbeit verstecken, aber dann hat der Text doch schon brutal ausgesintert und lässt beinahe Nazihafte Sätze zu.

Wie der Schmetterling im Tötungsglas, sagte er, lässt sich das Bewusstsein rasch zum Schweigen bringen. (222)

Das schwere Lesegebirge mit seinen über tausend Seiten erhält ab einem Viertel des Umfangs endlich einen Ausweg: Heute habe ich mit graben begonnen. (250)

In der Folge kommen Psyche, Historie, Subjekt und Objekt mit jedem Schaufelschlag an die Oberfläche, und das ist bei einem unterirdischen Vorgang etwas recht Seltsames, wird doch nur ein unterirdisches Ding von einer Ablagerungsform in die nächste übergeführt. Der Tunnel des Erzählers hat auch überhaupt keinen anderen Sinn im Auge, außer dass sich dabei Material umschichten und erforschen lässt.

Noch oberirdisch tätig hat sich Kohler einmal die Frage gestellt, warum gilt Staub nicht als Urelement wie Feuer oder Wasser? (171)

Als Leser gibt man es bald auf, sich an gewisse Gemarkungen des Unterbewusstseins oder des Recycelns zu halten, es geht um das Umgraben der Fakten und das Erzählen durch Aufschichten der Geschichten jenseits eines Loches der Befreiung. Denn einmal eingegraben in die Tätigkeit des Erforschens gibt es kein Ende mehr.

Der Roman wirft den Leser um, indem er ihn einfach untergräbt. Eine Frechheit des jüdischen Witzes stellt sich neben das Grauen des Holocaust, die Prärie gibt unter den Graswurzeln seltsame Weisheiten preis, der Familiengeschichte, die in jedem Haushalt oberirdisch gräbt, musst du unterirdisch beikommen. Germanistik, Historie und Psychologie werden mit jedem Schaufelstich zerschlagen.

Um dieses Tunnelwerk zu lesen, braucht es Wochen, um es zu begreifen, die Reife, dass vielleicht alles ganz anders ist, wenn man zu Graben beginnt. - Ein Jahrhundertwerk, nach dessen Lektüre niemand mehr an einen festen Boden glaubt.

William H. Gass, Der Tunnel. Roman. A. d. Amerikan. von Nikolaus Stingl. [Orig.: The tunnel, New York 1996].
Reinbek: Rowohlt 2011. 1092 Seiten. EUR 38,-. ISBN 978-3-498-02488-8.


Weiterführende Links:
Rowohlt-Verlag: William H. Gass, Der Tunnel
Wikipedia: William H. Gass

 

Helmuth Schönauer 27/08/12

Bibliographie

AutorIn

William H. Gass

Buchtitel

Der Tunnel

Originaltitel

The tunnel

Erscheinungsort

Reinbeck

Erscheinungsjahr

2011

Verlag

Rowohlt

Übersetzung

Nikolaus Stingl

Seitenzahl

1092

Preis in EUR

38,-

ISBN

978-3-498-02488-8

Kurzbiographie AutorIn

William H. Gass, geb. 1924 in Fargo, lebt in St. Louis.