Peter Handke, Kali

Buch-CoverVielleicht sollte man manche Texte gar nicht zu tief lesen, damit sie ihren Tiefgang entfalten können. Peter Handkes Kali-Roman ist jedenfalls eine Geschichte voller Leichtigkeit, Logik, Märchenhaftigkeit und Zeitlosigkeit.

Figuren kommen und gehen wie bei einem Scherenschnitt, den jemand angefangen und vergessen hat, manche Episoden werden angerissen und schon nach ein paar Gedankenansätzen wieder aufgegeben, dann kommt ein angeleimter Text aus einer anderen Epoche hinzu, die Jahreszeit ist zeitlos, auch wenn es vorwinterlich konkret um Schnee zu gehen scheint.

…ein Schnee, der, auch wenn er gerade frisch gefallen sein mag, keinen Eindruck von Schnee gibt. Wien kann das also wohl nicht sein? Zürich? Oder, warum nicht, Innsbruck? (35)

Völlig absichtslos werden Orte genannt, und siehe, Innsbruck kommt plötzlich in der Weltliteratur vor, wenn auch als die größte Fußnotenstadt an Nebensächlichkeiten.

Nicht nur dass es keinen Klappentext gibt, mit dem man sich vielleicht über eine Leseleiter in den Text hangeln könnte, Kali hat keine Erzählebene, sondern ein Koordinatensystem von Wortvernetzungen, durch das man episodenhaft abtauchen kann.

Der Gastgeber hat ihr reglos zugehört, und ist dann mit einem Ruck aufgestanden, wobei der Sessel umfällt. Hat er ihn absichtlich umgeworfen? Für einen Augenblick erscheint sein Gesicht wutverzerrt. Und beißt er sich jetzt in die geballte Faust? Einen Augenblick danach aber stellt er den Sessel wieder auf und sagt nur: "Morgen früh fahren wir miteinander unter Tag, bis hinab zur untersten Sohle". (101)

Im Text, der wie ein Tagesüberwurf über eine geheimnisvolle Schlummerstelle geworfen ist, werden schon beim ersten Aufstrich die Fragen der Rezeption mit eingeschlossen. Die Figuren sind seltsam anonym, ihre Emotionen Comics-voll verschlossen, als ob sie pro Zeiteinheit nur ein sparsames Quantum von Emotion verbrauchen dürften. Ja und irgendwann tauchen die Figuren dann ab in ein Kali-Bergwerk, das vielleicht als Endlager für heftig strahlende Texte angelegt ist.

So lösen sich allmählich Figuren, Handlungen und Zeit in sich selbst verschlossen in der Kali-Sohle auf.

Peter Handkes Kali-Geschichte lässt sich mit herkömmlichen Mittel nicht beschreiben, der Leser ist völlig fassungslos, dass es tatsächlich dieses Lesefass ohne Boden gibt, unendlich und bodenlos.

Peter Handke, Kali. Eine Vorwintergeschichte.
Frankfurt/M: Suhrkamp 2007. 160 Seiten. EUR 16,80. ISBN 978-3-518-41877-2.

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp-Verlag: Peter Handke, Kali
Wikipedia: Peter Handke

 

Helmuth Schönauer, 23-03-2007

Bibliographie

AutorIn

Peter Handke

Buchtitel

Kali. Eine Vorwintergeschichte

Erscheinungsort

Frankfurt a. M.

Erscheinungsjahr

2007

Verlag

Suhrkamp

Seitenzahl

160

Preis in EUR

16,80

ISBN

978-3-518-41877-2

Kurzbiographie AutorIn

Peter Handke, geb. 1942 in Griffen, lebt bei Paris.