Anna Kim, Die gefrorene Zeit

Buch-CoverNach einem Massaker bleibt die Zeit für Generationen eingefroren, die Leichname werden exhumiert und in Kühlhäusern aufbewahrt, die Gesichtszüge der Verschollenen sind auf Suchbildern eingefroren.

Es ist ein harter Roman, den uns Anna Kim zumutet, es geht um das Aushalten von Schmerz, Trauerrituale, das Verheilen von Wunden in einer bitterkalten Zeit.

Die Ich-Erzählerin arbeitet für eine internationale Einrichtung, um im Kosovo-Krieg verschwundene Personen ausfindig zu machen und fallweise zu identifizieren.

Die Arbeit verlangt höchstes Einfühlungsvermögen, denn unter dem Schmerz der Angehörigen sollen wichtige Daten herausgekehrt werden, damit man die verschwundene Person vielleicht identifizieren kann. Offiziell heißt das Ganze: Ante-Mortem-Fragebogen ausfüllen.

Der Kosovare Luan Alushi hat seine Frau verloren, sie wurde während des Bürgerkrieges abgeholt uns ist seither verschollen. Die Befragerin versucht vorsichtig zu sein, welche Bilder gibt es, welche Kleidung, welche Erinnerung, welche bemerkenswerten Gesten bleiben in Erinnerung.

Die Antworten fallen verstockt aus, aber allmählich entsteht ein liebevolles Bild der verschwundenen Frau. Die Zärtlichkeit der Erinnerung überträgt sich auf die Befragung, Luan Alushi verliebt sich in die Erzählerin, ganz zaghaft aber innig.

Es gibt mittlerweile neue Spuren zur Vermissten, Mann und Beauftragte fahren nach Pristina ins Zentrum der Verwundung. Die Erzählerin versucht Fortschritte auszumachen bei der Befriedung des aufgewühlten Landes. Zwischen Armut und Agonie dösen die Bewohner dahin, und dennoch gibt es eine unsichtbare Überlebensstruktur.

Regeln, erklärst du mir später, sind im Kosovo allgegenwärtig, alles ist festgelegt: Wie man Probleme innerhalb der Familie zu lösen hat, wie und wann man sich seinem Feind nähern sollte, wie ein Haushalt geführt gehört, wie Hunde zu behandeln sind [...]. (84)

Tatsächlich wird die entführte Frau gefunden, es ist unendlich schwierig, aus einem Leichnam Erinnerung herauszupressen, nichts ist letztlich so fern vom Leben wie der Leichnam eines Hinterbliebenen. Luan Alushi ist der Sache nur vorläufig gewachsen, bald wird die Erzählerin erfahren, dass er sich umgebracht hat.

Anna Kim erzählt schonungslos behutsam. Als Leser ertappt man sich immer wieder dabei, dass man einen Sachverhalt tabuisiert hat und jetzt durch diesen Roman vor sich frei legen muss.

Die Liebesgeschichte, umrahmt von Kriegswirren, Wahnsinn und Leichen, leistet sich nur das Nötigste, alle Schnörkel von Liebelei sind verpönt, es geht tatsächlich um Leben, Liebe und Tod. Ausnahmsweise ist die Bürokratie gnädig, die Befragung von Amts wegen fällt diskret und innig aus, so als ob die Bürokratie die letzte Rettung sein könnte, wenn es um den schieren Wahnsinn geht. Ein aufwühlender Roman.

Anna Kim, Die gefrorene Zeit. Roman.
Graz: Droschl 2008. 147 Seiten. EUR 18,-. ISBN 978-3-85420-742-9.

 

Weiterführende Links:
Literatur-Verlag Droschl: Anna Kim, Die gefrorene Zeit
Bachmannpreis: Anna Kim

 

Helmuth Schönauer, 02-10-2008

Bibliographie

AutorIn

Anna Kim

Buchtitel

Die gefrorene Zeit

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2008

Verlag

Droschl

Seitenzahl

147

Preis in EUR

18,00

ISBN

978-3-85420-742-9

Kurzbiographie AutorIn

Anna Kim, geb. 1977 in Südkorea, lebt in Wien.