Géza Ottlik, Die Schule an der Grenze

Buch-CoverSchlafsaal mit Fenstern nach Nordwesten, die Sonne, die sich zu spät für die Jahreszeit hinter den Abschlusskamm fallen lässt, eine Kastanienallee, deren Blätter schon diffuse Farben in die Lehmfahrbahn knallen: Was eine wunderschöne Inszenierung ist, stellt sich bald als perverse Kulisse für ein perverses Unternehmen heraus.

Dieses menschenverachtende Unternehmen ist eine Kadettenschule an der Außengrenze Ungarns, darin eingefangen sind die Söhne des Establishments, die noch nach Jahrzehnten an dieser sogenannten Ausbildung leiden.

Géza Ottliks Sensationsroman erschien 1959 in Ungarn, als das Land noch im Trauma des Desasters von 1956 gefangen war. Jede Zeile wurde auf die Goldwaage gelegt, ob darin vielleicht eine politische Botschaft enthalten wäre. Dabei hat Géza Ottlik vielleicht nur einen impressionistisch eingerahmten Erziehungsroman über militärische Zöglinge geschrieben, wie einst Robert Musil mit seinem Törless oder Rainer Maria Rilke, dem dieser Roman gewidmet ist, mit seinem Cornet.

Die Zeit in der Kadettenschule wird für die Insassen zu einem furchtbaren Erlebnis, sie können nicht entkommen, dürfen sich nicht wehren und werden auch noch bei ihrer Flucht in die innere Emigration oft von den Mitkadetten gnadenlos verfolgt. Am ehesten funktioniert das Überleben noch, wenn man sich an der Betrachtung der Umgebung erbaut und ins Träumen abdriftet.

Die tieferen Zusammenhänge zu ergründen war ihm jedoch nicht möglich gewesen, denn er wurde wiederholt aus seiner Träumerei aufgeschreckt. (70)

Was in der großen Welt an Schweinereien, Ausgrenzungen und Häme funktioniert, wird in dieser abgeschiedenen Welt auf das Perfekteste einstudiert. Freilich steht kein didaktisches Curriculum dahinter, was an Ungereimtheiten geschieht, geschieht aus dem Abdriften der Tagesverfassung vom großen Lehrprogramm. Es bleibt letztlich eine nicht aufgearbeitete Erinnerung, ein dummes System, in das jeder persönlich seine eigenen Lichtfenster hineinsetzen muss, wenn es sein muss nach Nordwesten.

Neben diesen luziden Beschreibungen einer entlegenen Stadt und den seltsam verzerrten Dialogen ist es vor allem die Komposition, die diesen Roman so aufregend macht. Ein ehemaliger Insasse bekommt nach dem Tod eines anderen Insassen dessen Manuskript vermacht. Während er das Manuskript liest, korrigiert er seine eigenen Erinnerungen und greift mit eigenen Kommentaren in den Ablauf des Manuskriptes ein.

Géza Ottliks Roman stellt eine scheinbar ins Zeitlose entrückte Welt der Erziehung dar, umgelegt auf ein siebzigjähriges Menschenleben freilich ist diese Welt einmalig, verrückt schmerzend und gleichzeitig hoffnungsvoll, wenn man gute Erinnerungslöcher in die eigene Vergangenheit bohrt.

Géza Ottlik, Die Schule an der Grenze. Roman. A. d. Ungar. von Charlotte Ujlaky. [Orig.: Iskola a Határon, Budapest 1959]. Mit einem Nachwort von Péter Esterházy.
Frankfurt/M: Eichborn 2008. 525 Seiten. EUR 32,-. ISBN 978-3-8218-6221-7.

 

Weiterführende Links:
Wikipedia: Géza Ottlik

 

Helmuth Schönauer, 07-06-2009

Bibliographie

AutorIn

Géza Ottlik

Buchtitel

Die Schule an der Grenze

Originaltitel

Iskola a Határon

Erscheinungsort

Frankfurt

Erscheinungsjahr

2008

Verlag

Eichborn

Übersetzung

Charlotte Ujlaky

Seitenzahl

525

Preis in EUR

32,00

ISBN

978-3-8218-6221-7

Kurzbiographie AutorIn

Géza Ottlik, geb. 1912 in Budapest, starb 1990 in Budapest.