Gerd Graenz, Zahnlos

Buch-CoverMeist werden historische Ereignisse mit großen Armbewegungen erzählt, je weiter jemand beim Texten ausholt, umso mehr Luft wirbelt er damit auf.

In Gerd Graenzs kleinem Roman Zahnlos geht es geradezu irdisch unhistorisch zu. Der Protagonist ist noch zu DD-Zeiten im Anflug auf Ost-Berlin, als es mit dem Gebiss nicht mehr ganz hinhaut. Obwohl er sich eigentlich ein paar harmlose Urlaubstage machen will, wird er jetzt zum Getriebenen, denn irgendwo muss eine zahnärztliche Hilfe her.

Im Hotel vermittelt man ihn an eine Zahnärztin und es stellt sich bald heraus, dass sie keine Ur-Berlinerin ist. So entwickelt sich, so gut das eben während einer Zahnbehandlung möglich ist, ein erstaunliches Gespräch über Kultur, wertvolle Sätze im Zitatenschatz einzelner Systeme und über das politische Leben überhaupt.

Während der Zahn-Urlauber scheinbar belangloses zahnloses Zeug erzählt, um dem System doch noch auf die Schliche zu kommen, aber nicht aufzufallen, sammeln sich gerade die ersten Protestgruppierungen, die bald einmal zum Ende der DDR führen sollen. Als zufälliger Beobachter schaut er sich vom Fenster aus den offensichtlich harmlosen Beginn einer historischen Aktion an.

Vor dem Schlafengehen hörte er draußen auf der Straße laute Worte und leise Gesänge. Er trat zu dem großen Fenster, schob die Vorhänge zurück und sah hinunter auf die Straße Unter den Linden. [...] Eine kleine Gruppe, vielleicht etwa 30 Menschen, demonstrierten. Sie hielten Plakate in der Hand und sangen ein Lied. Dazwischen riefen sie irgendwelche Worte, die er nicht verstand. Zum Schluss marschierte eine Frau mit einem kleinen Kind in der Hand. Beide stapften mutig auf der nassen Straße dahin. (33)

Gerd Graenz zeigt fein meisterlich, wie es für den einzelnen kaum möglich ist, mit der jeweiligen Geschichte mitzuhalten, geschweige denn einzugreifen. Zahnlos ist eine durchaus markante Methode, der großen Geschichtsschreibung ein paar Tage irdischen Lebens gegenüberzustellen. Der straff gehaltene Erzähl-Stil suggeriert vollendete Tatsachen, während der Held völlig wund und verzweifelt nichts anderes im Sinn hat, als im Gebiss wieder Ordnung zu schaffen. So trivial seltsam sind oft Innenwelt und Außenwahrnehmung mit einander verbunden.

Gerd Graenz, Zahnlos. Eine fast traurige Geschichte. Roman.
Wien: Verlag Der Apfel 2009. 81 Seiten. EUR 16,90. ISBN 978-3-85450-023-0.

 

Helmuth Schönauer, 13-01-2010

Bibliographie

AutorIn

Gerd Graenz

Buchtitel

Zahnlos. Eine fast traurige Geschichte

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2009

Verlag

Verlag Der Apfel

Seitenzahl

81

Preis in EUR

16,90

ISBN

978-3-85450-023-0

Kurzbiographie AutorIn

Gerd Graenz, geb. 1923, lebt in Wien.