Norbert Gstrein, Die ganze Wahrheit

Buch-CoverWenn man vor und nach der Lektüre nicht weiß, wie man den Roman lesen soll, dann ist er vor allem eines: aufregend gelungen.

Norbert Gstrein, der Meister des Verunsicherungstextes, lässt in seinem Roman Die ganze Wahrheit den Leser immer wieder ins Leere laufen. Denn auf den ersten Blick erzählt er eine verkorkste Liebes- und Ehegeschichte, deren Trivialität nur deshalb von Interesse ist, weil sie im Verleger-Milieu spielt.

Und im Verlagswesen geht es nun einmal um die Macht, denn hier wird über die Gültigkeit von Fiktion entschieden. Was letztlich als Buch in die Literaturgeschichte darf, bestimmen oft die Hormone der Verlagsinhaber und Lektoren.

Norbert Gstrein erzählt vom weltmännisch aufgeblasenen Verleger Heinrich Glück, der in Wien einen eher auf mickrig getrimmten Verlag führt. Für seine letzten Lebensjahre lässt er noch einmal erotisch die Sau heraus und verliebt sich in die schöne Theaterfrau Dagmar, die gerade am Burgtheater durchgefallen ist.

Für diese Schönheit, die für die Adabei-Szene bestens geeignet ist, lässt er seine Ehefrau stehen, eine frühere Frau hat sich schon mal vorsichtshalber umgebracht.
Als der Verleger stirbt, reißt seine letzte Frau alles an sich, führt den Verlag offensichtlich nach ihren Vorstellungen und schreibt eine Biographie über den Verstorbenen, in der ziemlich viel gelogen ist.

Der Ich-Erzähler tritt als Verlagslektor auf und erzählt die Geschichte jeweils von seiner Warte aus. Somit entsteht die komplette Verwirrung: Was hat nun mehr Glaubwürdigkeit, der Ich-Erzähler, der die Geschichte erzählt, oder die Verlagsinhaberin, die die Geschichte betreibt?

Ich mag nicht beurteilen, ob Heinrich Glück selbst ein bedeutender Mann war, aber seit es Dagmars Buch über ihn gibt, erübrigt sich die Frage, ob er eine Biographie verdient. Denn es ist eine Selbstverständlichkeit, mehr nicht, dass es wenigstens auch etwas in seinem Leben geben sollte, wenn er schon die fragwürdige Ehre hat, dass sein Tod zum Gegenstand einer sehr freien Phantasie geworden ist. (254)

Der Leser wird in diesem Glaubwürdigkeitsranking gnadenlos eingebunden. Da glaubt man eben noch, sich in der mickrigen Wiener Szene und deren Ausläufern nach Kärnten und Tirol auszukennen, da wird man auch schon als Jubel-Steirer und Hurra-Tiroler apostrophiert. In der Szene läuft alles klischeehaft ritualisiert ab, wenn es opportun ist, erfindet jemand einen jüdischen Stammbaum für sich, andererseits genügt schon das Wort "Waldheimaffäre", um einen ganzen Roman im Roman zu evozieren.

Dabei ist die Wahrheit vielleicht ganz einfach: Alles ist gemacht und ein Fake, Biographien werden schon zu Lebzeiten als Material über die Toten angelegt, denn leben heißt nichts anderes als "Die Sterbe hat begonnen!" (240)

Norbert Gstrein erzählt erbarmungslos kitschig über den Hormonhaushalt der Literatur-Macher und Macherinnen, manche wollen darin die Geschichte des Suhrkamp Verlags gespiegelt sehen, aber das ist vielleicht nur eine Ablenkungs-Assoziation. Die ganze Wahrheit besteht vielleicht darin, dass der ganze Literaturbetrieb ein letztlich ziemlich verlogener Spielbetrieb ist, bei dem alle Beteiligten hormonell käuflich sind. - Eine kühle und kluge Einschätzung!

Norbert Gstrein, Die ganze Wahrheit. Roman.
München: Hanser 2010. 302 Seiten. EUR 19,90. ISBN 978-3-446-23549-6.

 

Helmuth Schönauer, 03-09-2010

Bibliographie

AutorIn

Norbert Gstrein

Buchtitel

Die ganze Wahrheit

Erscheinungsort

München

Erscheinungsjahr

2010

Verlag

Hanser

Seitenzahl

302

Preis in EUR

19,90

ISBN

978-3-446-23549-6

Kurzbiographie AutorIn

Norbert Gstrein, geb. 1961 in Mils / Imst, lebt in Hamburg.