Anne Marie Pircher, Zu den Linien

Ein Leitsystem, das den Verleiteten nicht klar ist, führt diese in die Irre.
Anne Marie Pircher setzt in ihren neun Erzählungen über Um- und Ausstiegssituationen die Protagonisten jeweils einer besonderen Umgebung aus, worin die Koordinaten noch nicht vermessen sind, sodass die Situation samt Held und Umfeld in einen Schwebezustand gerät.

In der Titelerzählung „Zu den Linien“ wird ein erzählendes Ich in einer fremden Stadt von permanenten Hinweisen, Leitsystemen und Umsteigemöglichkeiten verleitet. Eine Frau konzentriert sich auf einen Blinden, der U-Bahn fährt. Sie versucht das Sichtbare auszublenden und sich auf Geräusche und Gerüche zu konzentrieren. An den Stationen werden verschiedene Linien ausgerufen, die als bloße Ziffern oder Buchstaben erscheinen.

Durch das Ausblenden der üblichen Wahrnehmungen wird die Stadt plötzlich zu einem abenteuerlichen erotischen Platz, an dem sich alle Begegnungen denken lassen. An der Endstation gehen plötzlich die Augen auf und die erträumte Liebkosung lässt nach. Oder ist sie echt? Es bleibt nichts als das Licht.

In „Still leben“ mietet sich eine betuchte Frau im Wellness-Hotel ein, um auf den Spuren des Seitensprungs ihres Mannes aus dem Leben zu scheiden. Sie bucht nur Refreshing, nichts Bestimmtes. Vom Personal will sie erfahren, wie ihr Mann so ist, wenn er mit der anderen zusammen ist. Aber im Hotel ist alles unter einer Matte von Diskretion ruhig gestellt. Das Ambiente ist sehr schön, in einer Illustrierten wird gerade die Traumhochzeit eines Finanzministers mit einer Kristallkugel geschildert, aber still ist es, zu still. Die Frau nimmt in Ruhe ihre Tabletten und beendet die Lebens-Kränkung.

Eine entgleiste Dreiecksgeschichte spielt auch in einen Konzertabend hinein, wo der Held plötzlich zwischen seiner verflossenen und seiner neuen Liebe zu sitzen kommt. Die Musik vermag die Risse nicht zu kitten, der Held wird immer aufgewühlter und unruhiger, schließlich sind beide Flanken leer und die Musik drischt in leerem Klang auf den Unglücksliebenden ein.

Anne Marie Pircher wählt für ihre Piecen meist exquisite Anlagen oder ein Ambiente voller Versprechungen. Ein verschneiter Zauberwald verführt die Spazierenden zu glänzenden Erinnerungen, die kaum noch etwas mit der Gegenwart zu tun haben. Eine Störung am Flugfeld zögert den Abflug einer Lissabon-Reise hinaus und macht die Stadt noch vor dem Abheben erinnerungs-wässrig. In einem entlegenen Landstrich sind kunstvolle Vogelscheuchen als archaische Skulpturen ausgestellt.

Die Figuren lassen sich in diesen Szenarien kurz aus ihrem Dämmerschlaf wecken, ein seltsamer Ruck geht durch sie, beinahe sind sie im Stande, das Leben zu verändern. Doch dann fällt wie in aufwühlenden Stücken sachte der Vorhang, Ruhe, Dämmer, Abflug, Endstation. Die Geschichten finden ein natürlich versickerndes Ende.

Sachte Erzählungen, worin keine großen Schlieren Platz haben, weil das Große sich in minimalistischen Gesten zeigt.

Anne Marie Pircher, Zu den Linien. Erzählungen.
Innsbruck: Edition Laurin 2014. 141 Seiten. EUR 16,90. ISBN 978-3-902866-18-9.

 

Weiterführende Links:
Edition Laurin: Anne Marie Pircher, Zu den Linien
Wikipedia: Anne Marie Pircher

 

Helmuth Schönauer, 30-10-2014

Bibliographie

AutorIn

Anne Marie Pircher

Buchtitel

Zu den Linien

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2014

Verlag

Edition Laurin

Seitenzahl

141

Preis in EUR

16,90

ISBN

978-3-902866-18-9

Kurzbiographie AutorIn

Anne Marie Pircher, geb. 1964, lebt in Kiens.