Lilly Jäckl, estoy durmiendo - ich schlafe gerade

Einen Roman, der ständig explodiert, sich selbst erklärt, den Leser zum Mitarbeiten einlädt und überall auf der Welt synchron spielen kann, nennt man Metafiktion. Das ist immer als ein Kompliment aufzufassen, dass es sich um keinen Krimi handelt.

Lilly Jäckl legt wie in feinen Lokalen zuerst einmal das Besteck aus, ehe die Speisen aufgetragen werden. Der spanische Titel wird beinahe widerwillig übersetzt, „ich schlafe gerade“ ist nämlich der Hauptzustand einer beteiligten Person und eine Art Krankenhaus-Kinderbuch, das verloren gegangen ist und notdürftig in Ausrissen zusammengesetzt wird.

Der Roman beginnt mit einer Fußnote, in der das Wesen der Fußnote erklärt wird, sie soll bei der Herstellung einer gewissen Ordnung helfen, wiewohl das nicht möglich ist. Uns schon die zweite Fußnote ist eine Tragödie, die erklärt, dass die Heldin in ihrer Kindheit fast nur als Fußnote vorgekommen ist und das immer nur als zweite Wahl, so wie eben diese Fußnote jetzt.

Die Heldin ist eine Ich-Erzählerin Nico, die offensichtlich gerade Kohle gemacht hat und sich probehalber als Millionärin ausgibt. Zu diesem Zweck hat sie sich in Ecuador eine Aussteigerdependance errichtet und streift im Beverly-Auszeit-Hills südlich von Quito durch Dschungel, pädagogische Sitzkreise und Ertüchtigungsübungen für die Psyche.

Aus ihrer Studentenzeit in Berlin ist vor allem der Geliebte übriggeblieben, der Biochemiker János, der bei einer Kosmetikfirma angeheuert hat. Er soll im Dschungel das Wesen der Kolibris erforschen, diese gelten nämlich den Schamanen als Inkarnation der Seele. Wenn man also einen Kolibri in seine genetischen Teile zerlegt, kann man vielleicht seelische Produkte für die Kundschaft herstellen oder so ähnlich.

Genaueres von der Welt wissen die beiden nicht, nehmen sie doch immer noch das Künstlerleben in Berlin als Maß aller Dinge. Das sind die Glückstermine in Kreuzberg, wenn man einen Soßenbinder kaufen geht und dabei ein Rendezvous ausfasst.

Dieses zerrissene und geflickte Weltbild ist dann auch die Erzähl-Speise, die in minimalistischen Dosen serviert wird. Mal fällt ein Baukran um und zerstört das System Ostkreuz, dann wieder outet sich das Ich als Fußnote der Romy Schneider, ich bin fünfzig Filme (22). „Erfahrung entsteht nur beim Gehen von Umwegen“ heißt es gleich zu Beginn und später im Dschungel wird das Schild einer Erdölfirma verlässlich falsch als „TOXICO“ gelesen, während die Bio-Systeme verrotten.

Für die Entwicklung eines neuen Medikaments sind mindestens 1,6 Milliarden Dollar notwendig, dagegen kommt es relativ billig, etwas auszurotten und zu erfinden, was dann erst wieder ein Medikament braucht.

In der Mitte des Textes wird der Roman schließlich zu einem Sarg, worin, ausgekleidet mit weißen Blättern, der Programmierer und Retter des Internets Aaron Swartz bestattet ist. Vielleicht sind es aber auch nur dessen analoge Grabsteindaten (1986-2013), das lässt sich bei Metafiktion nie genau sagen.

Lilly Jäckls Roman ist eine aufwühlende, augenzwinkernde und ausgerissene Dekonstruktion diverser Abenteuergeschichten, die sonst immer von einem Anfang und Ende ausgehen. Der echte Roman nämlich ist ein Dauerzustand wie die Fügung „ich schlafe gerade“, permanent abgetreten und wach.

Lilly Jäckl, estoy durmiendo - ich schlafe gerade. Roman
Graz: Edition Keiper 2016, 322 Seiten, 23,50, ISBN 978-3-902901-95-8

 

Weiterführende Links:
Edition Keiper: Lilly Jäckl, estoy durmiendo - ich schlafe gerade
Literaturhaus Graz: Lilly Jäckl

 

Helmuth Schönauer, 03-07-2016

Bibliographie

AutorIn

Lilly Jäckl

Buchtitel

estoy durmiendo - ich schlafe gerade

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2016

Verlag

Edition Keiper

Seitenzahl

322

Preis in EUR

23,50

ISBN

978-3-902901-95-8

Kurzbiographie AutorIn

Lilly Jäckl, geb. 1978 in Graz, lebt in Berlin und überall, wo Projekte sind.