Der Austrokoffer oder der Aufstand der Künstler zum Jubiläumsjahr

Was als Manifestation Österreichs als kulturelle Großmacht gedacht war, findet sich zunehmends auf die Größe eines kleinen Landes zurecht gestutzt. Die Rede ist vom "Austrokoffer" der nunmehr unter dem Namen "Landvermessung. Eine Auslese österreichischer Literatur nach 1945.Vergessene, Bleibende, Künftige. der austrokoffer." herausgegeben werden soll.

 

Eine Idee wird geboren

2005 jährt sich für die Republik Österreich zum 60. mal der Beginn der 2. Republik, zum 50. mal die Unterzeichnung des Staatsvertrags und zum 10. mal der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union. Außerdem wird Österreich 2006 gemeinsam mit Finnland die EU-Präsidentschaft übernehmen und damit verstärkt ins europäischen Blickfeld treten.

Anlässlich dieses Gedenkjahres 2005, das wie geschaffen für Feierlichkeiten erscheint, entstand die Idee, eine literarische Bestandsaufnahme der Literatur der 2. Republik zusammen zu stellen. Die Texte von 130 Autorinnen und Autoren sollten auf 5.000 Seiten in 18 Bänden zum Laden-Preis von 50 ? herausgegeben werden, um wie eine Art "Einstiegsdroge in die österreichische Literatur" zu wirken.


Der "Austrokoffer" soll Anfang des kommenden Jahres anlässlich der bevorstehenden Gedenkfeierlichkeiten der Republik Österreich erscheinen.

 

Als Vorbild zu dieser Idee diente die Aktion der Süddeutschen Zeitung, bei der die "50 wichtigsten Erzählungen des 20. Jahrhunderts" von der hauseigenen Feuilletonredaktion ausgewählt und zum Preis von 5,10 € (in Deutschland 4,90 €) pro Buch herausgegeben worden sind. Seit dem Frühjahr 2004 erscheinen die ausgewählten internationalen Romane wie z.B. "Die Unerträgliche Leichtigkeit des Seins" von Milan Kundera oder "Der Name der Rose" von Umberto Eco in regelmäßigen Abständen. (Süddeutsche Zeitung: Bibliothek)

Die österreichische Variante hingegen wird auf Texte österreichischer Autoren beschränkt bleiben und unter dem Namen "Austrokoffer" im Ueberreuter Verlag erscheinen. Als Initiatoren wurden auf der Homepage des Organisationskomitees "www.austrokoffer.at" Anfang September u.a. noch Staatssekretär Franz Morak und Bundeskanzler Wolfgang Schüssel genannt.


An der Person des Herausgebers des "Austrokoffers" Günther Nenning scheiden sich die "Autoren-Geister".

 

Die Namen der beiden Mit-Initiatoren wurden mittlerweile ebenso von der Internet-Site entfernt wie die Mitteilung, dass die Aktion von der Kronen Zeitung unterstützt wird. Herausgeber des Austrokoffers ist Günter Nenning, Autor und Kolumnist bei der Kronen Zeitung. Die Beweggründe den "Austrokoffer" herauszugeben, beschrieb er auf seine unverwechselbare Art mit folgenden Worten:

Die Geburt des Austrokoffers aus dem Gefühl: Literatur ist, was mein Herz erfreut. Ja, die beste Definition ist gar keine. Gehaut werden überstehe ich sehr gut. Sehr gehört zu ersehren. Liebe und Hiebe.
Es gibt gescheitere Definitionen. Mir reicht diese. Li-te-ra-tur ist mir eh zu sperrig. Dichtung. Aber aus lauter Bosheit streite ich mit niemandem.
Germanisten sattelt um. Werdet Austrizisten. Vielleicht wirds dann besser. Für mich ists egal. Ich bin auch so genug einseitig. Ich lasse die Fachleute sitzen in ihrem Fach. Wer sich ärgert, dem geschieht recht.
Ich bin ein Ösi. Ich entschlüpfe in die Literatur. Sprung aus dem Reich der EU ins Reich der Freiheit. Zur bequemen Reise aus dem Reich, wo uns jeder kann, ins Reich, wo uns keiner kann, dient der Austrokoffer...
austokoffer.at: Version Anfang September 2004

 

Der Aufstand der Autoren

Im August veröffentlichte das Organisationsbüro "Austrokoffer" eine Liste jener Autorinnen und Autoren, deren Texte den "Austrokoffer" füllen sollten. Kaum auf die Liste aufmerksam geworden, begannen sich auch schon die ersten AutorInnen gegen die Nennung ihrer Namen zu wehren. Neben Marlene Streeruwitz distanzierten sich auch Elfriede Jelinek, Gerhard Roth, Norbert Gstrein, Daniel Kehlmann und Wendelin Schmidt-Dengler sehr vehement davon, ihre Texte im "Austrokoffer" veröffentlicht zu sehen: In den "Austrokoffer" gepackte AutorInnen wollen raus. (Der Standard, 27. August 2004)  und Autoren-Distanz von "Austrokoffer" (Kurier, 2. September 2004) sind nur zwei von zahlreichen Schlagzeilen der heimischen Presse.


Elfriede Jelinek, Norbert Gstrein, Daniel Kehlmann und Marlene Streeruwitz sind nur einige von zahlreichen Autorinnen und Autoren deren Absagen beinahe täglich durch die  heimische Presse veröffentlicht worden sind.

 

Gerhard Ruiss, Geschäftsführer der Interessensgemeinschaft (IG) Autorinnen Autoren, informierte in einer Aussendung die Mitglieder der IG über die Details rund um das Projekt "Austrokoffer" und forderte, geplante Auszüge aus Werken Thomas Bernhards aus dem Austrokoffer zu entfernen:

Schon aus Gründen des selbstverständlichen Respekts sollte der für den Band 3 / Romane vorgesehene Thomas Bernhard-Roman "Frost" und der für den Band 12 / Stücke vorgesehene Auszug aus "Heldenplatz" (2. Szene) nicht mehr weiter vorgesehen werden, denn das hat Thomas Bernhard mit seinem Testament garantiert ausgeschlossen, in einer staatstragenden Publikation literarisch mitzuwirken, und wenn es zudem noch die beim "Austrokoffer" als Sponsor auftretende Kronen Zeitung war, die eine Kampagne allergrößten Ausmaßes gegen das letzte Werk Bernhards zu seinen Lebzeiten und jetzt für den "Austrokoffer" vorgesehene Bernhard-Stück "Heldenplatz" geführt hat.
Gerhard Ruiss, IG Autorinnen Autoren

 

Im September nahm die Kritik am "Austrokoffer" und am Herausgeber Günther Nenning immer größere Ausmaße an, sodass zuletzt von den 130 Autorinnen und Autoren, die in der Literatursammlung  vertreten sein sollten, bereits mehr als 50 ausdrücklich ihre Teilnahme verweigert hatten. Gemeinsamer Tenor der Autorinnen und Autoren ist die Ablehnung der Bezeichnung "Austrokoffer" ebenso wie der Ärger darüber, nicht über das Projekt informiert worden zu sein.

Gerhard Roth "spricht von einer Kränkung und bezeichnet die Vorgangsweise als unmöglich. Das vom Bund geförderte Buchprojekt sei ein trojanisches Pferd, mit dem man ins liberale Europa hineinreiten will."
ORF, Anthologie ohne Autoren?

 


Gerhard Roth distanzierte sich verärgert von einer Teilnahme am "Austrokoffer"

 

Robert Menasse der eine Teilnahme am Projekt ebenfalls ablehnte kritisierte in einem Interview im Deutschland Radio,

dass lebende Autoren immer verwunschen wurden, der Psychiatrie empfohlen wurden, als Netzbeschmutzer und Vaterlandsverräter bezeichnet wurden, und kaum waren sie tot, wurden sie vereinnahmt und in einer Kulturnation für die Touristen zur Schau gestellt, wie es eben zuletzt auch mit Thomas Bernhard geschehen ist. Die österreichischen Autoren haben seit jeher keine Lust gehabt, sich dann in irgendwelchen Situationen, wo die Politik im Spiel ist, sich vereinnahmen zu lassen, ausnahmsweise mal zu Lebzeiten. Dieser Koffer ist nichts anderes als ein kleines kulturelles Stückchen Ornament bei dem im nächsten Jahr anstehenden großen Selbstbeweihräucherungsjubelfest der Zweiten Republik.
Deutschland Radio, 7.9.2004

 


Der zunehmende Protest österreichischer Autoren machte auch das Ausland auf die Diskussion in Österreich aufmerksam.

 

Bereits im September wurde die deutsche Presse auf die Auseinandersetzung rund um den "Austrokoffer" aufmerksam und reagierte mit Spott:

In Österreich gibt es den Koffer, den Vollkoffer und als weitere Steigerung nun auch den Austrokoffer. Das [...] Wort Koffer hat nicht nur die Bedeutung eines geräumigen Behältnisses, sondern ist landauf und landab auch ein Synonym für Depp, also, in hochdeutscher Sprache, für einen Trottel. Ein Vollkoffer ist dementsprechend ein Volltrottel. Schon deshalb wollen renommierte Schriftsteller ihre Werke nicht in einen "Austrokoffer" packen lassen, den ein Verlag für das Jubiläumsjahr zum österreichischen Staatsvertrag 1955 plant.
FAZ, 7. September 2004

Günther Nenning reagierte auf die zunehmende Kritik und die Absagen die von den Autorinnen und Autoren in den Österreichischen Tageszeitungen beinahe täglich veröffentlicht wurde, indem er sich für die "Werbung" für den Austrokoffer bedankte.

 

 

Selbst bei Gerhard Ruiss, einem seiner heftigsten Kritiker, bedankte sich Nenning, sodass sich dieser plötzlich in den Reihen der Unterstützer des Projekts wieder finden musste:

Das Literaturhaus / IG AutorInnen / Geschäftsführung Gerhard Ruiss stellte uns wichtige Informationen zur Verfügung und half uns mit Anregungen und Kritik. Damit ist eine kritische Kooperation zustande gekommen, die für das weitere Gedeihen des gewaltigen Werkes wesentlich ist.
austrokoffer.at, Ende September 2004

 


Gerhard Ruiss machte die österreichischen Autorinnen und Autoren auf das Projekt "Austrokoffer" erst richtig aufmerksam.

 

Verärgert über die Nennung der IG Autoren und seines Namens auf der Internetsite des Austrokofferprojekts äußerte sich Gerhard Ruiss im Standard:

Sich auf gar kein Telefongespräch mit Günther Nenning einlassen" rät der Vorsitzende der IG Autoinnen Autoren, Gerhard Ruiss, momentan allen mit Literatur Befassten in Österreich. Der Grund: Ein solches Telefonat genüge, damit Nenning den Namen des Betroffenen als "interessiert", wenn nicht gar "Teilnehmer" an der "Landvermessung", dem umbenannten Austrokoffer veröffentliche. Eine "Zwangsvereinnahmung", so Ruiss. Seit sieben Tagen, in denen er sieben persönliche Briefe an Nenning schrieb, versuche er, die Streichung der gegenwärtigen Nennung der IG Autorinnen Autoren auf der Austrokoffer-Homepage zu erwirken - bisher ohne Erfolg.
Der Standard, 30. September 2004

Kaum wird die Zusage eines Autors auf Internetsite des "Austrokoffers" veröffentlichte folgt auch schon prompt dessen Absage, wie es im Fall Johannes Mario Simmel der Fall war:

Auch von Johannes Mario Simmel ist die Unterschrift unter das Autorenmanifest pro Austrokoffer eingetroffen. Von ihm wird die komplette Novelle "Begegnung im Nebel" im neuen Austrokoffer enthalten sein.
austrokoffer.at, Stand 4. Oktober

 

 
Johannes Marion Simmel fühlte sich von Nennings Versuch, ihn für eine Mitarbeit zu gewinnen, überrumpelt.

 

Simmel reagierte unerwartet heftig:

Eine pikante Fortsetzung der Geschichte des "Austrokoffers" bringt ein Anruf von Johannes Mario Simmel in der KURIER-Redaktion: "Ich muss Ihnen erzählen, was mir mit diesem gefährlichen Wurstel Günther Nenning passiert ist". Der sonst so zurück haltende Autor ist aufgebracht. Er "möchte dringendst raus" aus dem fatalen Austrokoffer, in den er "unter Vorspiegelung falscher Fakten" hinein geraten sei.
Kurier, 28.September 2004

Trotz dieser doch recht deutlichen Absage, wird die Teilnahme des Autors am Projekt weiterhin auf der Internet-Site "austrokoffer.at" kolportiert.


Marie Therese Kerschbaumer, Günther Nenning, Anna Mitgutsch und Robert Schindel stellen gemeinsam das neuen Konzept für den "Austrokoffer vor.

 

Gerade zu einem Zeitpunkt als die Hiobsbotschaften über absagenden AutorInnen am Höhepunkt stehen, erhält das Projekt Unterstützung durch namhafte Autoren wie Marie-Therese Kerschbaumer, Milo Dor, Robert Schindel, Anna Mitgutsch und Julian Schutting die sich als MitherausgeberInnen Günther Nenning zur Seite stellen:

Das Konzept der "Sammlung österreichischer Literatur nach 1945. der austrokoffer" dient dazu, eine möglichst umfassende Auswahl aus der Literatur nach 1945 zu bieten. Es folgt nicht dem Prinzip eines kompletten Literaturkanons. Es ist eine Landvermessung, die vor allem den jungen AutorInnen und den jungen LeserInnen dienen soll, in einer hohen Auflage und zu einem günstigen Preis sowie mit Verbreitung in Österreich und auch im größeren EU-Raum. [...]
Liebe KollegInnen, was immer unser Schicksal war oder sein wird, es ist verbunden mit diesem Land Österreich, das uns auch braucht, obwohl es das nicht immer weiß. 60 Jahre Befreiung, 50 Jahre Staatsvertrag, wer möchte das entbehren?
Wir finden uns gerne mit möglichst vielen DichterInnen in Günther Nennings Projekt"Sammlung österreichischer Literatur. der austrokoffer". Wir reiben uns an keiner/keinem der MitbewohnerInnen des Koffers und hoffen, daß sich keine/r an uns reibt. Bitte macht alle mit!
austrokoffer.at, Stand Anfang Oktober 2004

Die nächste Änderung betraf den Namen des Projekts: Der "Austrokoffer" sollte von nun an "Landvermessung. Eine Auslese österreichischer Literatur nach 1945. Vergessene, Bleibende, Künftige. der austrokoffer." heißen.


Aufgrund zunehmender Kritik und Absagen durch Autorinnen, Autoren und Verlage musste ein neues Konzept entwickelt werden.  Auch der Name des Projekts lautet nun "Landvermessung".

 

Fast gleichzeitig warf Verlagsleiter Fritz Panzer endgültig das Handtuch und erklärte den Ausstieg des Ueberreuter Verlags aus dem Projekt. Seiner Ansicht nach lasse sich "das ursprüngliche Konzept, eine repräsentative Sammlung der österreichischen Literatur nach 1945 zu publizieren, nicht mehr umsetzen"
Der Standard, 21.9.2004

 

Der Versuch den "Austrokoffer" mit Hilfe eines Verlagskonsortiums herausgeben zu lassen scheiterte ebenfalls recht schnell, nachdem bereits zahlreiche Verlage wie der Haymon, Residenz, Wieser u.a. genannt worden waren.
Der Standard, 30.9. 2004

Lediglich der von Richard Pils gegründete Verlag "Bibliothek der Provinz" konnte sich für das Projekt begeistern und übernimmt nun sowohl die Herausgabe des "Austrokoffers" als auch dessen "Präsentation" auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse.
Der Standard, 1.10. 2004

 


Peter Handke lehnt es ab, am Projekt "Austrokoffer" teilzunehmen.

 

Wohin die turbulente Reise des "Austrokoffers" weiter geht, lässt sich ebenso wenig erkennen, wie sich die Frage beantworten lässt, ob er jemals und rechtzeitig sein Ziel erreichen wird. Dass die Reise unterhaltsam bleiben wird, ist aber gewiss. Mittlerweile hat auch Peter Handke in einem Interview mit der Zeitschrift News seine Gründe genannt, weshalb er das Projekt boykottieren möchte (News, Nr. 40/04), das Wochenmagazin News hat seinen "Gegenkoffer ? Die wichtigsten 50 österreichischen Bücher" präsentiert (News, Nr. 40/04) und Günter Nenning einen offenen Brief an Elfriede Jelinek und Peter Handke verfasst (Der Standard, 4.10.2004)

 

Andreas Markt-Huter, 05-10-2004

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