Tiroler Weihnacht: Das Kindlwiegen - Ein vergessener Tiroler Brauch

Das Kindlwiegen war ein alter Tiroler Brauch, der sich erstmals 1511 im Sterzinger Weihnachtsspiel nachweisen lässt. Zum Wiegen einer Christkindfigur wurden Wiegenlieder gesungen. Das erfolgte zunächst in der Kirche, später besuchten Mädchen in weißen Kleidern, ähnlich den Sternsingern heute, die einzelnen Familien zu Hause, wo sie, eine Christkindfigur wiegend, ihre Liede sangen. Anschließend überreichte ihnen die Hausmutter allerhand gute Dinge.

Viele Bräuche bleiben oft nur mehr aus Erzählungen oder durch Bücher in Erinnerung. So auch der Tiroler Weihnachtsbrauch des Kindlwiegens. Aber genauso wie Brauchtum verloren geht, verändern sich auch Denkweisen, Ausdrucksweisen und Wertvorstellungen.

Der Heimatforscher und Seelsorger Hermann Mang (1883 - 1947) beschrieb das Kindlwiegen in seinem Buch Unsere Weihnacht Volksbrauch und Kunst in Tirol. Das Buch ist nicht nur ein Zeugnis für altes Tiroler Weihnachts-Brauchtum, sondern auch ein Stimmungsbild katholischen Denkens gegen Ende der 20iger Jahre des 20. Jahrhunderts. Schwer verdaulich aus heutiger Sicht erscheint z.B. Pfarrer Mangs Beurteilung des Kindlwiegens als Brauch, der wundersam angepaßt der Frauennatur ist. Die Merkmale dieser Frauennatur sieht er gekennzeichnet durch Naivität und Poesie. Aber auch Texte der überlieferten Wiegenlieder zeugen von einer kämpferischen Sprache und einer, auch bei Tiroler Katholiken der damaligen Zeit, weit verbreiteten Verurteilung der Juden als Christusmörder.

So heißt es in einem Wiegenlied aus Spinges:

Schlaf, o Kindlein ohne Sorgen, / In den Windeln eingemacht, / bleib nun etlich Jahr verborgen, / Bis du kommst zur letzten Schlacht. / Anoch dir nicht widerstreben / Welche in der Judengmein, / Mit der Hand sie nicht aufheben / Wider dich die harten Stein. (Mang: Unsere Weihnacht, S. 102)


Die Weihnachtskrippe steht auch heute noch in Tirol groß in Tradition und zählt zu einem wichtigen Brauchtum rund um die Weihnachtszeit. Foto: Tibs-Bilderdatenbank, Maria Klinger

 

Lesen in Tirol bietet zum alten Tiroler Weihnachtsbrauch des Kindlwiegens einen transkribierten Auszug, des in gotischer Schrift gedruckten Werkes von Hermann Mang aus dem Jahr 1927. Das gesamte Buch als Volltextausgabe zum Nachlesen oder auch Ausdrucken finden sie bei Austria Literatur Online (ALO) im weiterführenden Link.

 

«Das Kindlwiegen
 
von Hermann Mang

Die Freude des Volkes an bildhafter Gestaltung der heiligen Ereignisse hat auch einen anderen wunderlieben Brauch geschaffen, der wohl sicher auf die kirchlichen Mysterienspiele zurückgeht, nämlich das Kindlwiegen. Im Sterzinger  Weihnachtsspiel, das 1511 aufgeschrieben wurde, ladet Maria den heiligen Josef ein:

Joseph, lieber gemachl mein,
Nu hilf mir wiegn das Kindelein.
Gott, der will dein loner sein
Im Himlreich
Der junkfrae Kind,
Maria.

Während nun Josef und Maria das Kindlein wiegen, singen Engel Weihnachtslieder. Was hier im weitläufigen Spiel dargestellt ist, wurde sicher schon früher in den Kirchen geübt. Eine kleine Wiege mit dem Jesukind darin ? in Sterzing hatte das Christkind ein Kreitzl? in der Hand ? wurde in der Weihnachtszeit auf einen Altar gestellt , zu gewissen Stunden geschaukelt und dabei wurden eigene Christkind-Wiegenlieder gesungen. Ob der Brauch in vielen oder allen Kirchen in Übung war, läßt sich nicht sagen, für verschiedene Orte ist er bezeugt. Eine eingehende Beschreibung bringt die wiederholt genannte Brixner Dommessnerordnung von ungefähr 1560, in welcher der damalige Dommessnerdd seine sämtlichen Dienstverrichtungen aufgezeichnet hat. Ein ganz eigenes Läuten rief zum Kindlwiegen. Zuerst ertönten die erste Glocke und die zweite, dann die zweite und die dritte, dann die dritte und die vierte, dann die vierte und die erste und endlich läuteten alle Glocken zusammen. Wiegt das Kindl mit den Gloggen!? schreibt der Mesner allemal.

Am Neujahrstag nach dem Nachmittagsgottesdienst wurde das Kindl zum erstenmal gewiegt. Der Mesner trug die Wiege mit dem Kindl auf den Stephansaltar, zwei aus den Domschülern durften die Wiege schaukeln und indessen sang der Schulmeister mit den Domschülern vierstimmig "In dulci jubilo". Waren die Strophen verklungen, wanderten Lehrer und Schüler in die Domschule und sangen das Lied: "Puer natus in Bethlehem", der Dommesner aber reichte das Jesulein den Kindern zum Küssen. "Bewar dichwol" mahnt er in seiner Aufschreibung, "nim ain gayßl zu dier, dan die pueben seint vast unzogen." Dann trug er Wiege und Kind wieder in die Sakristei. So fand das Kindlwiegen statt an allen Sonn- und Festtagen bis Lichtmeß.

Schon aus dieser Beschreibung ist ersichtlich, daß das Kindlwiegen nicht mehr recht kirchlicher Brauch und schon im Verfall war; es wurde nicht von Priestern geleitet und das Kind wurde nur den Kindern zum Küssen gereicht. Wahrscheinlich ist es gar nicht mehr lange in den Kirchen aufgeführt worden. Wie Mysterienspiel und eihnachtskrippe ist auch das Kindlwiegen aus der Kirche ins Wohnhaus gewandert und hat sich dort weit länger erhalten. Sehr lange wurde es noch in den Frauenklöstern gepflegt; im Klarissenkloster in Brixen blieb es bis um 1870 im Brauch. Bis in die allerneueste Zeit hat es sich in einzelnen Gemeinden des Oberinntals erhalten.


Der Brauch des Kindlwiegens konnte zuletzt in Silz im Jahr 1905 beobachtet werden. Foto: Tibs-Bilderdatenbank, Maria Klinger

 

Aus verschiedenen Tälern Tirols sind Christkind-Wiegenlieder auf uns gekommen; das schönste wohl aus dem Unterinntal.

 

Still, still, still,
Weils Kindl schlafen will;
Maria tut es niedersingen,
  Ihre keusche Brust darbringen.
Still, still, still,
Weils Kindl schlafen will;
     
  Schlaf, schlaf, schlaf,
Mein liebes Kindl schlaf:
Die Engel tun schön musizieren,
Bei dem Kindl jubilieren.
Schlaf, schlaf, schlaf,
Mein liebes Kindl schlaf.
 

 

Ein anderes Christkind-Wiegenlied, weit später entstanden, ganz in der Denkweise des achtzehnten Jahrhunderts, stammt aus Spinges:



Schlaf, o Kindlein, ruhig schlafe,
Schließe sanft die Äugelein,
Schlaf, jetzt nicht den Sünder strafe,
Ihn verschon, o Jesulein!
Lasse deine Füßlein rasten,
Tu den süßen sanften Schlaf,
Bis du wirst nach langem Rasten
Suchen auf verirrte Schaf.



Schlaf, o Kindlein, bis die Wellen
Werden drohen deiner Schar,
Deinen auserwählten Seelen
In der großen Lebensgfahr;
Wenn das Meer sich wird erkecken
Und wird toben, wüten sehr,
Sodann wird man dich erwecken,
Rufen: Auf, hilf uns, o Herr!

 

 Schlaf, o Kindlein ohne Sorgen,
In den Windeln eingemacht,
bleib nun etlich Jahr verborgen,
Bis du kommst zur letzten Schlacht.
Anoch dir nicht widerstreben
Welche in der Judengmein,
Mit der Hand sie nicht aufheben
Wider dich die harten Stein.

 

Schlaf, o Kindlein, ohne Schmerzen,
Ohne Kummer und Verdruß,
Niemand kommt mit falschem Herzen,
Niemand kommt mit falschem Kuß;
Niemand kommet jetz mit Stangen;
Roten Fackeln, Schwert und Bänd,
Dich aus Haß und Neid zu fangen
Und zu binden deine Händ.

 


Schlaf, o Kindlein, dir nicht schadet
Des Herodes Ehregeiz,
Niemand dich nun hart beladet,
Niemand dich schlägt an das Kreuz.
Schlaf, o Kindlein; für uns wache,
Eh wir werden schlafen ein,
Zu dem Todbett dich aufmache,
Wollst sodann uns gnädig sein.

 

Während an den meisten Orten des Oberinntals bis hinüber in den Vinschgau die Nachrichten vom letzten Kindlwiegen nur bis in die Fünfziger- und Sechzigerjahre heraufreichen, ist in Silz das Kindlwiegen bis zum Jahre 1905 gepflegt worden. Mädchen, meist zu dreien, wanderten in weißen Kleidchen mit einer kleinen Wiege und einem Jesukind darin in die Häuser, stellten die Wiege auf einen Tisch, schaukelten sie und sangen dazu Christkind-Wiegenlieder und auch altbekannte Weihnachtslieder.

In einem ihrer Wiegenlieder hieß es:

Stille, stille, immer stille,
Jesus sanft im Stroh da schläft;
Es zittert das süße Würmlien vor Kälte,
Nur Ochslein und Eselein geben den Hauch dazu,
Drum stille, stille, stille,
Jesulein schläft in sanfter Ruh.

"Waren die Lieder verklungen, brachte die Hausmutter allerhand gute Dinge und die Mädchen zogen weiter. Es war doch ein wunderlieber Brauch, ein richtiges egenstück zum Sternsingen der Buben, wundersam angepaßt der Frauennatur, voll Naivität und Poesie, eine ganz feine Art, den Weihnachtsgedanken in Herz und Gemüt einzuprägen. Das Kindlwiegen hat ganz aufgehört, zum Teil weil nicht mehr genug Einfalt und Verständnis vorhanden waren, zum Teil, weil allerhand Mißbräuche sich eingeschlichen hatten."
aus: Hermann Mang, Unsere Weihnacht - Volksbrauch und Kunst in Tirol. Innsbruck 1927, Seite 100 - 103.

 

Lesen in Tirol
wünscht allen Leserinnen und Lesern
frohe und besinnliche
Weihnachtsfeiertage 2017!

 

Foto: Maria Klingler, Tibs-Bilderdatenbank

 

 

Weiterführende Links:
ALO: Hermann Mang, Unsere Weihnacht - Volksbrauch und Kunst in Tirol

Weihnachts-Foto: Tibs-Bilderdatenbank, Maria Klinger

 

Andreas Markt-Huter, 26-12-2005
aktualisiert: Andreas Markt-Huter, 01-12-2017

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