Lese-/Rechtschreibschwäche: Wenn Lesen und Schreiben zum Alptraum wird. Teil 1

Es gibt Kinder, die geradezu als lesesüchtig bezeichnet werden können. Es gibt aber auch Kinder, die mit körperlichen Beschwerden reagieren, wenn es gilt auch nur kürzere Texte zu lesen; von dicken Büchern ganz zu schweigen. Die Abneigung gegen das Lesen geht meist auf massive Probleme beim Lesen zurück.

Im 1. Teil des Interviews spricht Dr. Brigitte Thöny von der Schulpsychologischen Beratungsstelle Innsbruck-Land West wann eine Lese-/Rechtschreibschwäche vorliegt, was die Anzeichen und Folgen einer Lese-/Rechtschreibschwächeund sindd und wie sie erkannt werden kann.

Ludwig kommt mit der Rechtschreibung nur mühsam zurecht. Also fragt er seinen Freund Matthias um Rat. Matthias versucht ihm folgendermaßen zu helfen : Also, alles was du anfassen kannst, wird groß geschrieben. Was du nicht anfassen kannst, wird klein geschrieben. Nehmen wir diesen Satz als Beispiel : Die Katze sitzt hinterm Ofen. Die kannst du nicht anfassen, also schreibst dus klein. Katze kannst du anfassen, also schreibst dus groß. Sitzt kannst du nicht anfassen, wird also klein geschrieben. Hintern kannst du anfassen, schreibst du also groß. Nur beim Ofen musst du aufpassen ! Wenn er eingeheizt ist, kannst du ihn nicht anfassen, musst ihn also klein schreiben. Ist er aber nicht eingeheizt, kannst du ihn anfassen und schreibst ihn deshalb groß. So einfach ist das!
aus :  F.X.Müller, Trainingsprogramm für rechtschreibschwache Kinder, Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz

Von einer Lese-/Rechtschreibschwäche wird gesprochen, wenn die Fertigkeiten eines Kindes beim Lesen und Schreiben weit hinter den zu erwartenden Leistungen zurückbleiben. Kinder mit einer Lese-/Rechtschreibschwäche freuen sich wie alle Kinder zu Schulbeginn darauf endlich Lesen zu lernen, sich damit eine neue Welt zu eröffnen. Kinder die beim Lesen lernen im Vergleich zu ihren MitschülerInnen zu lange mit lese-technischen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, beginnen Lesen mit Unlustgefühlen zu verbinden und das Lesen zu vermeiden.


Dr. Brigitte Thöny gilt als Expertin in allen Fragen auf dem Gebiet der Lese-Rechtschreibung
in Tirol.
Foto: Markt-Huter

Ein Teufelskreis entsteht: Die LehrerInnen sind unzufrieden. Die Eltern setzen ihr Kind immer mehr unter Druck und alles in der Familie beginnt sich zunehmend um das Thema Lesen und Rechtschreibung zu drehen. Die Kinder beginnen schließlich auf diesen massiven Druck mit Krankheitszeichen zu reagieren. Immer öfter klagen sie über Bauchschmerzen, Übelkeit und Kopfschmerzen oder reagieren mit Bettnässen aber auch Verweigerung und aggressivem Verhalten.

Damit dieser Teufelskreis durchbrochen werden kann, bieten Einrichtungen wie die Schulpsychologie- und Bildungsberatung Tirol allen betroffenen Kindern, Eltern und LehrerInnen ein differenziertes Angebot an Hilfen. Lesen in Tirol hat Frau Dr. Brigitte Thöny von der Schulpsychologischen Beratungsstelle Innsbruck-Land West besucht.

 

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Lesen in Tirol: Was ist gemeint, wenn von einer Lese-/Rechtschreibschwäche gesprochen wird?

Brigitte Thöny: Von einer Lese-/Rechtschreibschwäche ist die Rede, wenn ein Kind mit dem Lesen, Schreiben oder mit beidem Schwierigkeiten hat, wobei noch nichts über die Ursachen ausgesagt wird. Es ist damit auch nicht gesagt, dass beim Lesen oder Schreiben ganz bestimmte Fehler, sondern lediglich, dass sehr viele Fehler auftreten.

Laut ICD 10 ist eine Lese-/Rechtschreibstörung dadurch gekennzeichnet, dass die Lese-/Rechtschreibleistungen eindeutig unterhalb des Niveaus liegen, das aufgrund des Alters, der allgemeinen Intelligenz und der Schulklasse zu erwarten ist. Wenn ein Kind unter einer Lese-/Rechtschreibschwäche leidet, sagt das also nichts über seine Intelligenz aus - es kann in anderen Fächern sehr gute Leistungen erbringen.

Lesen in Tirol: Wie wird eine Lese-/Rechtschreibschwäche festgestellt?

Brigitte Thöny: Wir in der Schulpsychologie führen zunächst einen Begabungstest durch, um die intellektuellen Fähigkeiten eines Kindes zu erfassen. Dann folgen ein Rechtschreibtest und ein Lesetest, die beide normiert sind, wobei es wichtig ist zu beachten, ob das Kind ein Verständnis für die Buchstaben-Laut-Zuordnung und umgekehrt hat. Kann es alle Laute heraushören, die in einem Wort enthalten sind und kann es diesen die richtigen Buchstaben zuordnen?

Außerdem gilt es festzustellen, ob das Kind eine Wortspeicherung (Anm.: beim Schreiben) und auch eine direkte Worterkennung (Anm.: beim Lesen) hat. Im Deutschen muss die Schriftsprache auf zwei Wegen erlernt werden, weil ungefähr die Hälfte aller Wörter im deutschen Sprachschatz orthographisch schwierige Wörter sind, während bei der anderen Hälfte von lauttreuen Wörtern gesprochen werden kann.


Ein Kind, das unter einer Lese-/Rechtschreibschwäche leidet, kann in anderen Fächern
trotzdem sehr gute Leistungen erbringen.
Foto: Markt-Huter

 

Kindergartenkinder können häufig bestimmte Wörter lesen - ohne wirklich lesen zu können, weil sie in der Lage sind das Wortbild zu erkennen, wie z.B. "Bauhaus" oder "Cola". Danach lernen Sie, dass Worte aus Lauten bestehen und lernen diesen Lauten die Buchstaben zuzuordnen. Wenn sie beginnen die Worte richtig zu lesen, können sie diese auch einspeichern und auf einen Blick erkennen. Sie müssen z.B. das Wort "Mama" jetzt nicht mehr mühevoll zusammenlauten, also Laut für Laut zusammensetzen, sondern erkennen es auf einen Blick.

Lesen in Tirol: Theorien zur Lese-/Rechtschreibschwäche hängen also sehr eng mit Theorien des Lesenlernens zusammen?

Brigitte Thöny: Das ist richtig. Der Aufbau des Schriftsprach-Erwerbs entspricht ziemlich genau dem, wie auch die Schwierigkeiten beim Lesen und Rechtschreiben auftreten können. Es gibt sehr viele Theorien, welche die Ursachen dieser Schwierigkeiten zu erklären versuchen. Früher wurde z.B. die Meinung vertreten, dass es sich bei einer Lese-/Rechtschreibschwäche um eine Wahrnehmungsschwäche im Raumorientierungsbereich oder in der visuellen Differenzierung handle. Mittlerweile wissen wir, dass das Erlernen von Lesen und Schreiben durch viele Faktoren erschwert werden kann, dass die ausschlaggebende Ursache für eine Lese-/Rechtschreibschwäche aber in einem phonologischen Defizit (Schwierigkeiten bei der Verarbeitung der Lautstruktur) besteht.

Das Phänomen der Lese-/Rechtschreibschwäche hängt daher ganz stark von der Sprache ab. Das Chinesische mit seiner Bilderschrift kennt z.B. keine Lese-/Rechtschreibschwäche. Bei den Finnen gibt es viel weniger Legasthenie als bei uns, weil das Finnische eine ganz lauttreue Schriftsprache ist. Andererseits ist Legasthenie im englischen Sprachraum weiter verbreitet als beispielsweise bei den Italienern oder bei uns, weil es hier keine direkte Laut-Buchstabe-Zuordnung gibt.

Lesen in Tirol: Wie muss man sich bei einem Kind das Lesen mit einer Lese-/Rechtschreibschwäche nun konkret vorstellen?

Brigitte Thöny: Kinder mit einer Lese-/Rechtschreibschwäche haben meist schon Probleme beim Zusammenlauten eines Wortes. Sie müssen die Wörter langsam und mühevoll erlesen und erfassen deshalb meist nicht, was sie eigentlich gelesen haben. Ein Kind das z.B. das Wort "Mädchen" falsch betont und das "ä" zu lange dehnt, weiß oft gar nicht, dass es "Mädchen" gelesen hat. Es kann daher passieren, dass ein Wort jedes Mal mühevoll wieder neu erlesen werden muss, auch wenn es im gleichen Text bereits fünfmal vorgekommen ist. Das Kind hat in diesem Fall den Inhalt des gelesenen Wortes einfach nicht verstanden.

Sehr häufig fällt eine Leseschwäche erst richtig auf, wenn die Kinder Textaufgaben zum Rechnen bekommen. Während sie das Lesen für den Leseunterricht zumeist fleißig mit ihrer Mutter üben und sich dabei die Texte merken, müssen bei Textaufgaben zum Rechnen die Inhalte plötzlich verstanden werden. Oft wird zu diesem Zeitpunkt erst richtig offensichtlich, dass beim Kind das Leseverständnis kaum vorhanden ist.

  
Bild links: Beispiel für Buchstabensalat?. S. 12. Bild rechts: Beispiele für lauttreue,
aber orthographisch falsche Schreibungen, S. 14;

aus: Karin Landerl/Heinz Wimmer/Ewald Moser, SLRT  Salzburger Lese- und Rechtschreibtest.
Verfahren zur Differentialdiagnose von Störungen des Lesen und Schreibens für
die 1. bis 4. Schulstufe; Handbuch. Bern: Verlag Hans Huber 1997

 

Lesen in Tirol: Ab welchem Alter kann eine Lese-/Rechtschreibschwäche bemerkt werden?

Brigitte Thöny: Eine Lese-/Rechtschreibschwäche lässt sich ab der 2. Klasse, Anfang 3. Klasse deutlich erkennen. An und für sich kann aber bereits bei Kindern im Vorschulalter festgestellt werden, ob eine Veranlagung für eine Lese-/Rechtschreibschwäche besteht. Bei diesen Kindern können bereits in diesem Alter Schwierigkeiten im phonologischen Bereich auffallen, sie können dann z.B. Probleme beim Reimen oder beim Silbenklatschen haben,  können also nicht auf die Wortstruktur, sondern nur auf den Sinn bzw. Inhalt des Wortes achten.

Lesen in Tirol: Ist es sinnvoll bereits in diesem Alter mit Förderungen zu beginnen?

Brigitte Thöny: Es empfiehlt sich, möglichst früh mit Übungen zu beginnen, was wir in unseren Kindergärten auch umsetzen. Das heißt, dass die Kindergartenpädagoginnen mit ihren Kindern bestimmte Spiele spielen, die bereits eine phonologische Frühförderung sind. Unter Umständen entwickelt sich dann bei den Kindern gar nie eine Lese-/Rechtschreibschwäche. Das tägliche Üben über 10 Minuten wird heute in vielen deutschen Bundesländern zum Teil bereits flächendeckend in Kindergärten durchgeführt, weil sich diese Form der Frühförderung als überaus erfolgreich erwiesen hat.


Manchmal fällt eine Lese-/Rechtschreibschwäche sehr spät auf, weil das Kind z.B.
immer fleißig mitgelernt und Strategien entwickelt hat, um diese Schwächen
auszugleichen.
Foto: Markt-Huter

 

Lesen in Tirol: Gibt es ähnliche Angebote auch bei uns in Tirol?

Brigitte Thöny: In Tirol führen wir die Frühförderung derzeit in den Kindergärten im Bezirk Innsbruck-Land West durch. Ich habe das relativ einfache Förderungsprogramm allen Kindergartenpädagoginnen des Bezirks vorgestellt, das sie dann auch sehr gut umsetzen konnten. Manche Kindergartenpädagoginnen haben sich zusätzlich eine kleine Einschulung, eine Supervision oder Ähnliches gewünscht und auch erhalten. Wir haben diese Frühförderung zuerst in Innsbrucker Kindergärten als Pilot-Versuch durchgeführt und danach die Kinder in der Volksschule getestet. Das Resultat war, dass diese Kinder sowohl beim Lesen als auch beim Schreiben wesentlich weniger Schwierigkeiten hatten als die Kinder der Kontrollgruppe, die nicht gefördert worden waren.

Die Untersuchungen in Deutschland und Schweden haben ebenso gezeigt, dass diese Form der Frühförderung eine große Hilfe bedeutet. Sollte sich diese Frühförderung in Tirol flächendeckend installieren lassen, wären damit große Erfolge zu erzielen. Andererseits kommen nicht selten auch Eltern erst zu uns, wenn das Kind bereits die 1. Klasse Hauptschule besucht. Viele haben dann ein schlechtes Gewissen und werfen sich vor, die Schwierigkeiten ihres Kindes beim Lesen und Schreiben nicht früher bemerkt zu haben.

Dazu möchte ich sagen: Es kann wirklich passieren, dass eine Lese-/Rechtschreibschwäche einfach nicht früher auffällt, weil das Kind z.B. immer fleißig mitgelernt und Strategien entwickelt hat, um diese Schwächen auszugleichen. Beruhigend möchte ich sagen, dass sich eine gezielte Förderung immer lohnt. Ein Nachteil liegt allerdings auch darin, dass die Fördermaterialien für das Alter ab 13 Jahren nicht mehr so unterhaltsam aufgebaut sind, wie für frühere Altersstufen.

Lesen in Tirol: Wie hoch liegt der Anteil an SchülerInnen mit einer Lese-/Rechtschreibschwäche?

Brigitte Thöny: Das lässt sich nicht so leicht in Zahlen ausdrücken. Ungefähr ein Drittel aller Kinder weist in irgendeiner Form einmal Schwächen beim Lesen oder Rechtschreiben auf. Am häufigsten treten die Schwierigkeiten am Anfang, also in der 1. Klasse auf, unter Umständen aber auch dann wieder verstärkt in der 3. Klasse. Allgemein dürften in Österreich ungefähr 6 % der SchülerInnen eine Lese-/Rechtschreibschwäche aufweisen, die auch einer Betreuung bedarf. Es wird sehr viel getan, damit die LehrerInnen die Kinder selber vor Ort unterstützen können, weil es sehr wichtig ist, dass das Lesen- und Schreibenlernen an den Schulen bleibt.

Nicht jedes Kind mit Schwierigkeiten soll einen eigenen Therapeuten benötigen! Veranstaltungen am Pädagogischen Institut wurden eigens zu dem Zweck durchgeführt, den LehrerInnen das nötige Handwerkszeug zu vermitteln, mit dem Kinder mit einer Lese-/Rechtschreibschwäche gezielt gefördert werden können. Was LehrerInnen dabei erfahren, ist: Wie erkenne ich eine Lese-/Rechtschreibschwäche bei einem Kind und wie kann ich es dann entsprechend fördern?

 

>> Lese-/Rechtschreibschwäche: Wenn Lesen und Schreiben zum Alptraum wird. Teil 2

 

Weiterführende Links:
Schulpsychologie - Bildungsberatung Tirol
Schulpsychologie - Bildungsberatung Österreich
bm:bwk: Die schulische Behandlung der Lese- Rechtschreib-Schwäche (Handreichung pdf.)
Phonologische-Bewusstheit

 

Andreas Markt-Huter, 10-08-2005
aktualisiert: 04-03-2021

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