Analphabetismus in Tirol

In Österreich gelten seit Jahren offiziell 300.000 Menschen als funktionale AnalphabetInnen, ExpertInnen gehen jedoch von einer rund doppelt so hohen Zahl aus. Während es in ganz Österreich derzeit vier Alphabetisierungsinitiativen gibt, befinden sich in Tirol Alphabetisierungskurse für Menschen die Lesen und Schreiben verlernt haben, erst im Planungsstadium.

Für Salzburg schätzt der Verein ABC die Zahl der Erwachsenen die Lesen und Schreiben nicht mehr beherrschen auf ca. 20.000 Menschen. Die Anzahl der funktionalen AnalphabetInnen in Tirol dürfte auf einem vergleichbaren Niveau liegen. In Tirol haben Einrichtungen wie das Berufsförderungsinstitut oder die Volkshochschule die Notwendigkeit von Kursangeboten für diese Zielgruppe erkannt und mit der Planung von Kursen für funktionale AnalphabetInnen begonnen.

In Deutschland wurde 2003 erstmals eine Studie an Volkshochschulen durchgeführt, um empirische Daten über die Zielgruppe "Funktionale Analphabeten" zu sammeln. Die Ergebnisse dieser bemerkenswerten Studie, für die es in Österreich kein Pendant gibt, können im weiterführenden Link zur LuTA-Studie nachgelesen werden.

Lesen in Tirol hat die Leiterin der Tiroler Volkshochschule Dr. Sylvia Caramelle und die Leiterin der Alphabetisierungskurse für MigrantInnen zum funktionalen Analphabetismus in Tirol und über zukünftige Kursangebote für AnalphabetInnen der VHS-Tirol befragt.

 

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Lesen in Tirol: Wie hoch schätzen Sie den Bedarf an Alphabetisierungskursen für AnalphabetInnen mit Deutsch als Muttersprache in Tirol ein?

Silvia Caramelle: Selbstverständlich ist auch in Tirol ein gewisser Bedarf an Alphabetisierungskursen vorhanden, wenn man die von der UNESCO geschätzten Zahl von mindestens 300.000 AnalphabetInnen zugrunde legt, die es in Österreich gibt. Der Prozentsatz an AnalphabetInnen wird in Tirol sicherlich ähnlich liegen wie in den anderen Bundesländern.

Es gibt in verschiedenen Bundesländern Angebote für AnalphabetInnen, in Tirol aber noch nicht. Die Volkshochschule Tirol hat bereits vor 15 Jahren einmal mit dem Versuch begonnen, Alphabetisierungskurse anzubieten, was aber dann leider nicht weiter verfolgt worden ist. In der Zwischenzeit haben sich in Salzburg und der Steiermark eigene Vereine zur Alphabetisierung gebildet.


Dr. Sylvia Caramelle und Mag. Beatrix Cardenas-Tarillo hoffen auch in Tirol in naher Zukunft Alphabetisierungskurse für funktionale AnalphabetInnen anbieten zu können. Foto: Markt-Huter

 

Der Verband Österreichischer Volkshochschulen hat sich dieses Themas nun für alle Bundesländer angenommen und eine Kennenlernrunde gestartet, wo ausgereifte Projekte – wie jene der VHS Floridsdorf und der VHS Linz – den Volkshochschulen der anderen Bundesländer vorgestellt werden.

Die größten Probleme, damit auch in Tirol entsprechende Kurse angeboten werden können, sind vor allem finanzieller Natur. Alphabetisierungskurse sind sehr kostenintensiv, da sie nur in Form sehr kleiner Gruppen wirklich sinnvoll durchgeführt werden können.

Speziell die Vorbereitung von Alphabetisierungskursen sowie die Ausbildung der KursleiterInnen, aber auch die Information der Zielgruppe stellen ein sehr aufwändiges Unterfangen dar. Um Menschen zu erreichen, die von Analphabetismus betroffenen sind, müsste die Problematik „Analphabetismus“ generell aufgezeigt werden und stärker in das öffentliche Bewusstsein eindringen. Aber eine Institution allein wäre mit einer groß angelegten Informations-Campagne sicherlich überfordert.

Lesen in Tirol: Wie groß ist das Interesse von politischer Seite, um gegen den Analphabetismus anzukämpfen?

Silvia Caramelle: Meiner Ansicht nach ist das politische Interesse an dieser Problematik noch nicht sehr ausgeprägt. Im Gegensatz dazu gibt es in Deutschland schon seit längerer Zeit eine bundesweite Kampagne, die sicherlich notwendig ist, wenn gegen den Analphabetismus etwas erfolgreich unternommen werden will.

Lesen in Tirol: Wie hoch schätzen Sie die Anzahl der AnalphabetInnen mit deutscher Muttersprache in Tirol ein?

Silvia Caramelle: Über den Anteil an AnalphabetInnen an der Gesamtbevölkerung kursieren die unterschiedlichsten Zahlen, die zum Teil wirklich erschreckend sind. Ich bin aber nicht in der Lage, über tatsächliche Prozentsätze Auskunft zu geben, weil hier generell einfach konkrete Zahlen fehlen.

Lesen in Tirol: Wie lassen sich AnalphabetInnen in Tirol erreichen und ansprechen?

Silvia Caramelle: Die beste Information erfolgt wahrscheinlich über Mundpropaganda. Diese stößt aber dort an ihre Grenzen, wo das familiäre Umfeld oder der Bekanntenkreis gar nicht weiß, dass die betreffende Person nicht lesen und schreiben kann. Es soll selbst Fälle geben, wo ein Partner nichts über den Analphabetismus des anderen weiß. Wenn es um Information geht, dürfte wohl den Medien Fernsehen und Radio die größte Rolle beizumessen sein. Hier sehe ich die besten Aussichten, einige Menschen anzusprechen und sie für einen Kursbesuch zu mobilisieren. Klar scheint vor allem, dass diese Zielgruppe am besten über das Hören erreicht werden kann.


Meiner Ansicht nach ist das politische Interesse am funktionalen Analphabetismus bei uns noch nicht sehr ausgeprägt. Foto: Markt-Huter

 

In Deutschland gibt es in letzter Zeit auch Versuche, Alphabetisierungskurse über das Internet anzubieten, wobei hier die Technologie genutzt wird, mit der auch Tondokumente übertragen werden können. Angebote dieser Art lassen sich aber nicht von einzelnen Einrichtungen umsetzen. Die Kosten für die Programmierung und Ausarbeitung sind zu hoch, um ohne die Unterstützung von öffentlicher Seite durchgeführt werden zu können.

Lesen in Tirol: Gibt es von Seiten der VHS Versuche, AnalphabetInnenkurse auch in Tirol anzubieten?

Silvia Caramelle: Wir sind gerade dabei, uns grundsätzlich darüber zu informieren, wie ein solches Angebot in die Wege geleitet werden kann. Wir haben mit Frau Mag. Cárdenas Tarrillo eine Lehrerin, die bereit wäre, im Rahmen von Alphabetisierungskursen für Personen mit deutscher Muttersprache mitzuwirken und dazu eine Ausbildung in Strobl zu absolvieren. Außerdem planen wir, uns mit Fachleuten zusammenzusetzen, die uns bei der professionellen Umsetzung der Kursangebote zur Seite stehen sollen.

Ich sehe die größte Gefahr vor allem beim ersten Kontakt der entsprechenden Personen mit einem Kurs. Wenn in der Anfangsphase eines Kursbesuchs etwas schief geht, ist die Person wahrscheinlich für immer verloren und für keinen Neueinstieg mehr zu gewinnen. Untersuchungen zufolge vergeht oft ein ganzes Jahr zwischen dem Augenblick, in dem eine Person ins Auge fasst, einen Alphabetisierungskurs zu besuchen bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sie den Kurs tatsächlich besucht. Wenn es so lange dauert, diese Hemmschwelle zu überwinden, ist es nachvollziehbar, dass solche Personen zurückgeworfen werden, wenn es in der Anfangsphase zu persönlichen Problemen kommt.

Beatrix Cárdenas Tarrillo: Ich würde diese Aussage absolut unterstreichen. In unserer Gesellschaft bedeutet „nicht lesen zu können“ ein großes Defizit, und daher fühlen sich AnalphabetInnen auch sozial schwächer gestellt. Sie haben zwar Strategien entwickelt, um die Defizite auszugleichen, empfinden ihren Analphabetismus aber als Makel.

Ich bin der Auffassung, dass fremdsprachige MigrantInnen mit Analphabetismus und deutschsprachige Menschen mit Analphabetismus getrennt zu unterrichten sind. Es handelt sich dabei um zwei völlig unterschiedliche Zielgruppen.
Bei MigrantInnen ist es – je nach Herkunftsland – oft kein gesellschaftliches Problem, nicht lesen zu können. In ihrem eigenen Umfeld haben diese Personen nicht das Gefühl diskriminiert zu werden.

In vielen Ländern ist es nicht außergewöhnlich, dass vor allem etliche Frauen kaum lesen und schreiben können. Hier werden die Erwartungen an die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, bei weitem nicht so hoch gesteckt wie es in unserer Gesellschaft der Fall ist. Erst wenn sie mit unseren gesellschaftlichen Erwartungen konfrontiert werden, spüren sie dieses Defizit.

Für Menschen, die aber bei uns aufgewachsen sind und hier leben, wird die mangelnde Kompetenz im Lesen und Schreiben bereits von Anfang an als tief empfundenes inneres Defizit erlebt, was sich häufig in Minderwertigkeitsgefühlen ausdrückt. Deshalb ist es gerade zu Beginn eines Kurses besonders wichtig, diesen Personen vorsichtig und einfühlsam zu begegnen, da sie sonst nicht mehr erreichbar sind.


AnalphabetInnen haben zwar Strategien entwickelt, um ihre Defizite auszugleichen, empfinden ihren Analphabetismus aber trotzdem als Makel. Foto: Markt-Huter

 

Silvia Caramelle: Von den AnalphabetInnen deutscher Muttersprache hat ein großer Teil Sonderschulen besucht und daher bereits in früher Jugend eine Art Minderwertigkeitskomplex andern gegenüber entwickelt. Viele reagieren darauf, indem sie sich immer mehr zurückziehen. Sie geraten dadurch in einen Teufelskreis, der dazu führen kann, dass sie das Lesen und Schreiben wieder gänzlich verlernen.

ArbeitsmarktforscherInnen glauben z.B., dass Analphabetismus in Zukunft verstärkt bei Jugendlichen auftreten wird. Es sind gerade Schulabbrecher, die durch ihre mangelnde Ausbildung zunächst keinen Arbeitsplatz bekommen. Für eine Weiterbildung fehlen ihnen dann die nötigen Voraussetzungen, weil die meisten Kurse mindestens Hauptschulniveau bei ihren TeilnehmerInnen voraussetzen.

In einer solch ausweglosen Situation ohne Perspektiven auf Weiterbildung fallen sehr viele in Analphabetismus zurück. Selbstverständlich ist die Gruppe der AnalphabetInnen alles andere als homogen, sodass in Alphabetisierungskursen ein breites Spektrum verschiedener Personen aufeinander trifft: geistig minder begabte Personen sitzen häufig in Kursen mit Ex-Häftlingen u.a. Die Spannungen, die dabei entstehen können, verlangen den KursleiterInnen eine besondere Ausbildung ab, um damit richtig umgehen zu können.

Beatrix Cárdenas Tarrillo: Ich bin begeisterte Kursleiterin und unterrichte in vielen Bereichen, aber selten lassen sich positive Entwicklungen von KursteilnehmerInnen so intensiv miterleben wie im Bereich der Alphabetisierung.

Lesen in Tirol: Wie sehen die Perspektiven in Bezug auf Alphabetisierungsangebote der VHS für die nächsten Jahre aus?

Silvia Caramelle: Unser Wunsch wäre es, bis Herbst aufzeigen zu können, dass wir konkret an einem Alphabetisierungsprogramm arbeiten. Wie gesagt ist die Zeitspanne sehr groß, die von der Überlegung einen Kurs zu besuchen, bis hin zur tatsächlichen Umsetzung verstreicht. Unser Ziel wäre es daher, bis Herbst soweit vorzuarbeiten, dass es uns möglich ist, mit einer Kursankündigung an die Öffentlichkeit zu gehen.

Lesen in Tirol: Vielen Dank für das Interview!



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Weiterführende Links:

 

Andreas Markt-Huter, 23-03-2006

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