Der Weg zum Allgemeinen Wahlrecht 1905 – 1907: nachgelesen in den Innsbrucker Nachrichten. Teil 2

Vor hundert Jahren wurden die Abgeordneten zum Österreichischen Reichsrat erstmals nach dem gleichen, geheimen, direkten und unmittelbaren Wahlrecht gewählt. Frauen sollte das Wahlrecht in der österreichischen Monarchie aber bis zuletzt verschlossen bleiben.

 

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Teil 2: Die ersten Wahlen nach dem neuen Wahlrecht

Vom 14. bis 24. Mai 1907 fanden schließlich die ersten gleichen, geheimen, unmittelbaren und persönlichen Wahlen statt. Das es sich um eine Mehrheitswahl handelte und nur jene Kandidaten der einzelnen Wahlkreise ins Abgeordnetenhaus einziehen konnten, die eine absolute Mehrheit erhalten hatten, mussten in vielen Wahlkreisen am 24. Mai Stichwahlen abgehalten werden.

In der Berichterstattung der Innsbrucker Nachrichten, wird kein Hehl daraus gemacht, welchem Kandidaten und welcher Partei die Unterstützung gilt. Dabei fallen die Wahlhilfen für die zahlreichen Wähler, die erstmals ihre Stimme abgaben, recht manipulativ aus.

Noch einige Worte an die Wähler! Was hat der Wähler morgen zu tun und zu beachten? Der Wähler soll vor allem sein Wahlrecht ausüben, also wählen gehen und zwar sobald als möglich. Er muss persönlich an der Wahlurne erscheinen. Einem anderen seinen Stimmzettel geben, damit dieser für ihn wähle, ist gesetzlich ganz unzulässig. Auch eine Vollmacht wäre wertlos.

[...] Die Bezeichnung des Kandidaten muss auf dem Stimmzettel klar und deutlich angegeben sein. [...] Der Wähler übergibt den Stimmzettel zusammengefaltet dem Vorsitzenden der Wahlkommission, und dieser legt ihn, ohne dass er ihn öffnen oder lesen darf, in die Wahlurne. Jede Besorgnis, dass jemandem aus seiner Abstimmung eine geschäftliche oder sonstige Benachteiligung erwachsen könnte, ist also vollständig überflüssig.

[...] Der Wähler des 1. Wahlkreises schreibe also auf seinen Stimmzettel: Dr. Eduard Erler [...] Sollte sich ein Wähler noch vor seiner Wahl in irgendeinem Punkte Rats einholen wollen, so verweisen wir ihn auf die Agitationslokale der Deutschfreiheitlichen.
Innsbrucker Nachrichten, Nr. 108, 13.5.1907, S. 1

Der folgende Artikel am Wahltag gibt einen kurzen Einblick über den Wahlkampf und die mit dieser Wahl verbundenen Hoffnungen des Autors wieder.

Heute ist Wahltag in ganz Österreich. [...] Es gab in der etwas all zu lang bemessenen Frist der Wahlbewegung bis zum Wahltage Tausende von Versammlungen. Kandidatenreden ohne Ende, Aufklärungen und Verleumdungen, Resolutionen und Flugzettel, gesprengte Versammlungen und einige blutige Köpfe vervollständigten das Bild. Heute wollen die Parteien ernten, was sie in den letzten 3 1/2 Monaten gesät haben.


In den Innsbrucker Nachrichten wurden die Leser genau informiert wie gewählt wird. Die Zeitung ließ aber auch keinen Zweifel daran, welchem Kandidaten ihre Unterstützung galt und scheute dabei auch nicht vor offener Manipulation zurück.

 

[...] Das gleiche Wahlrecht wird auch für die Deutschen seine guten, erzieherischen Wirkungen der Wähler und der Gewählten zeigen. Das Interesse für die Tätigkeit oder Untätigkeit der Abgeordneten wird sich intensiv steigern, das Verantwortungsgefühl der Volksboten gegenüber großer Volksmassen wird es verhindern, dass die Erfüllung der einmal übernommenen Pflichten lau genommen wird. Die regen  Wechselbeziehungen zwischen Volk, Parlament und Regierung lassen das Beste hoffen.

[...] Das allgemeine und gleiche Wahlrecht führt heute neue Volksmassen zur Urne; wir geben an diesem historischen Tage für Österreich unserem innigsten Wunsche Ausdruck, dass sich das allgemeine Stimmrecht auch bei uns als ein Segen für die wahren Volksinteressen erweisen möge.
Innsbrucker Nachrichten, Nr. 109, 14.5.1907, S. 2

Während zu den Reichstagswahlen alle männlichen Bürger ab dem 24. Lebensjahr zugelassen waren, war der Tiroler Landtag davon noch weit entfernt. Mit dem neuen Wahlrecht auf Reichtagsebene erwachte auch die Hoffnung auf eine zunehmende Demokratisierung des Landtagswahlrechts.

Die Rückwirkung der Tiroler Reichsratswahlen auf die Verhältnisse im Tiroler Landtage. Vom Reichsrats- und Landtagsabgeordneten Josef Schraffl. Die erste Wirkung der eben vollzogenen Reichsratswahlen in Tirol wird darin liegen, dass die Tiroler Sozialdemokraten, die im Abgeordneten von Innsbruck II einen einflussreichen Führer erlangt haben, nunmehr mit aller Macht die Demokratisierung des Wahlrechtes des Tiroler Landtages anstreben werden. Die christlichsozialen Tiroler taten das schon lange, bisher aber erfolglos. Dem Einflusse der zwei zahlreichsten politischen Verbände des zukünftigen Reichsrates wird die Regierung schwerlich widerstehen können.
Innsbrucker Nachrichten, Nr. 123, 1.6.1907, S. 1

Wahlergebnis der 1. freien Reichstagswahlen 1907 in Tirol nach Wahlbezirken:

   Wahlbezirk   gewählt   Partei  National.
 1. Stadt Innsbruck I Dr. Eduard Erler Deutsch - Freiheitlich  Deutsch
 2. Stadt Innsbruck II Simon Abram Sozial - Demokrat Deutsch 
 3.

Städte und Märkte Kufstein, Kitzbühel, Hopfgarten, Rattenberg, Schwaz, Hall,
Imst, Landeck, Telfs, Reutte und vills

Prof. Dr. Michael Mayr  Konservativ Deutsch 
 4. Städte und Märkte Lienz, Ampezzo,
Bruneck, Brixen, Klausen, Innichen, Welsberg, Niederdorf, Toblach, Gossensaß, Sterzing, Gries, Zwölfmalgreien und Obermais
Athanasius von Guggenberg Christlich -Sozial Deutsch
 5. Städte Bozen und Meran Dr. Julius Perathoner Deutsch - Freiheitlich Deutsch 
 6. Stadt Trient Auguste Avancini  Sozial - Demokrat Italienisch 
 7. Städte Rovereto, Riva, Arco und Mori Baron Valerian Malfatti Nationalliberal Italienisch
 8. Bezirke Kufstein, Kitzbühel und Hopfgarten Prof. Dr. Franz Stumpf Christlich -Sozial Deutsch
 9. Bezirke Rattenberg, Schwaz, Fügen und
Zell am Ziller
Karl Niedrist Christlich -Sozial Deutsch
 10. Bezirke Innsbruck, Hall, Steinach und Mieders Johann Graß Christlich - Sozial Deutsch
 11. Bezirke Reutte, Silz und Telfs Peter Unterkircher Christlich - Sozial Deutsch
 12. Bezirke Imst, Landeck, Ried und Nauders Josef Siegele Christlich-Sozial Deutsch
 13. Bezirke Meran, Passeier, Schlanders und Glurns Dr. Franz Dorfmann Christlich-Sozial Deutsch
 14. Bezirke Lana, Kaltern, Neumarkt, Altrei, Truden, Laurein, St. Felix, Unsere liebe
Frau im Walde und Proveis
Emil von Leys Christlich-Sozial Deutsch
 15. Bezirke Bozen, Sarntal und Kastelruth Josef Kienzl Christlich-Sozial Deutsch
 16. Bezirke Brixen, Sterzing und Klausen Johann Frick Christlich-Sozial Deutsch
 17. Bezirke Bruneck, Taufers, Enneberg, Buchenstein und Welsberg Prof. Dr. Amilian Schöpfer Christlich-Sozial Deutsch
 18. Bezirke Lienz, Windisch-Matrei und Sillian Josef Schraffl Christlich-Sozial Deutsch
 19. Bezirke Malè, Cles und Fondo Dr. Emanuel Lanzerotti Klerikal Italienisch
 20. Bezirke Roveretto, Ala, Mori und Villa Lagarina Don Johann Panizza Klerikal  Italienisch 
 21. Bezirke Borgo, Strigno und Levico Don Guido von Gentili Klerikal Italienisch
 22. Bezirke Fassa, Primiero, Civezzano
und Cavalese
Bonsilius Paolazzi Klerikal Italienisch
 23. Bezirke Trient, Stenico, Bezzano und Pergine Albin Tonelli Klerikal Italienisch
 24. Bezirke Condino, Tione, Val di Ledro,
Riva und Arco
Don Baldesari Delugan Klerikal Italienisch
 25. Bezirke Mezzolombardo, Lavis und Cembra Dr. Heinrich Conci Klerikal Italienisch

Quelle: Innsbrucker Nachrichten Nr. 110, 15. Mai 1907 S. 1f und Innsbrucker Nachrichten Nr. 117, 24. Mai 1907 S. 1f.

 

Am 19. Juni wurde von Kaiser Franz Joseph I. die Thronrede zur Eröffnung des ersten Reichsrates des allgemeinen Stimmrechts verlesen. Das zwiespältige Verhältnis, das Kaiser Franz Josefs I. gegenüber dem Parlamentarismus auszeichnete, drückte sich dadurch aus, dass er das Parlament nur zweimal, anlässlich seiner Eröffnung betreten hatte. Die Eröffnung des Reichsrats fand daher bezeichnenderweise nicht im Parlament sondern im Zeremoniensaal der Hofburg statt. Der Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand blieb der Zeremonie aus Protest gegen seinen früheren Protegés Ministerpräsident Beck der Zeremonie fern.

 

Die feierliche Eröffnung des Reichsrates. Im großen Zeremonien-Appartement der Hofburg versammelten sich gestern die Vertreter der beiden Häuser des Reichsrates, um die Thronrede entgegenzunehmen. Die Mitglieder des Herrenhauses hatten vor der rechten, die des Abgeordnetenhauses, darunter auch Sozialdemokraten, vor den linken Tribünen Aufstellung genommen.

[...] Der Kaiser bestieg den Thron, bedeckte sein Haupt und verlas die Thronrede. [...] "Geehrte Herren von beiden Häusern des Reichrates! Am Beginne einer neuen bedeutungsvollen Session habe ich Sie um Meinen Thron versammelt und heiße Sie herzlich willkommen. Die Wahlreform, die durch die Beseitigung jeglichen Vorrechtes im Wahlrecht alle Staatsbürger mündig gesprochen und jedem den gleichen Einfluss auf die öffentlichen Angelegenheiten eingeräumt hat, ist begründet auf das Vertrauen, das Ich in die Staatstreue Meiner Völker setze.

Es wird die besondere Aufgabe des neu gewählten Abgeordnetenhauses sein, dieses Vertrauen zu rechtfertigen und zu erweisen, dass die umfassende Erweiterung der politischen Rechtsgrundlagen Hand in Hand geht mit einer Zusammenfassung und Steigerung der politischen Kräfte des Staates. Denn das Recht der Mitbestimmung begründet die Pflicht der Mitverantwortung für das Schicksal des Ganzen.
Innsbrucker Nachrichten, Nr. 139, 20.6.1907, S. 1

Erst mit der Wahlrechtsreform von 1907 wurde aus dem österreichischen Parlament eine richtige Volksvertretung. Bis zu diesem Zeitpunkt kann es lediglich als eine Vertretung von privilegierten Interessen betrachtet werden. Bis im Parlament aber schließlich die Interessen alle Bürgerinnen und Bürger vertreten worden sind, musste noch die Einführung des Wahlrechts für Frauen erfolgen.

Erst am 12. November 1918 wurde vom provisorischen Nationalrat der 1. Republik die Verhältniswahl mit dem allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Stimmrecht ohne Unterschied des Geschlechts beschlossen und damit auch den Frauen das passive und aktive Wahlrecht eröffnet.

Das geplante Ziel Kaiser Franz Josefs I., mit der Wahlrechtsreform die nationalen Spannungen im Vielvölkerstaat zu entschärfen, erfüllte sich nicht. Der Reichsrat wurde wegen der zunehmenden nationalen Konflikte mehrmals suspendiert und konnte so auch zum Ausbruch des 1. Weltkriegs 1914 nicht Stellung beziehen. Während des Krieges wurde der Reichstag erst 1917 wieder einberufen, um schließlich im Herbst 1918 in die einzelnen nationalen Gruppen zu zerfallen.

 

Weiterführende Texte:

 

>> Der Weg zum Allgemeinen Wahlrecht 1905 – 1907: nachgelesen in den Innsbrucker Nachrichten Teil 1

 

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Weiterführende Links:
ANNO: Austrian Newspaper Online

 

Andreas Markt-Huter, 24-05-2007

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