Nenad Velickovic, Der Vater meiner Tochter

Titelbild: Nenad Velickovic, Der Vater meiner TochterBegriffe geben manchmal vor, einen Sachverhalt darzustellen, und das Individuum ordnet sich meist diesen gängigen Bezeichnungen unter, damit eine Ruhe ist. In Wirklichkeit rumort es dann in den Helden weiter.

Nenad Velickovic hat seinen ersten Roman „Logiergäste“ genannt. Damit spielt er auf den Zustand an, dass die Bewohner Sarajevos während der Belagerung eine Mischung aus Gefangenen, Flüchtlingen, Fremden und Eingewiesenen dargestellt haben. Als Gäste mit oft erbärmlicher Logis haben sie sich eine neue Form der Identität suchen müssen.

Im zweiten Logiergäste-Roman geht es um das seltsame Verhältnis des Erzählers zu seiner Tochter, die er durch die Kindheit begleiten will, als wäre die Welt im Ausnahmezustand und Sarajevo eben etwas Besonderes. Der Titel hat lexikalische Züge, der Vater meiner Tochter versucht eine gewisse Nuance der Identität in den Vordergrund zu stellen. Der Erzähler nämlich macht als Eingelagerter Sarajevos jede Menge Identitätskrisen durch. Zur allgemeinen politischen Lage gesellt sich auch eine Beziehungskrise.

Indem der Tochter ständig etwas vorgelesen wird, wenn etwas Unerklärliches passiert, entsteht eine eigene Sarajevo-Welt, in der etwa die Bibliothek abgebrannt ist, weil sie als Mahnmal besser wirkt, als wenn darin gelesen würde. (18) Im Märchen legt der Wolf Minen, damit das Rotkäppchen in die Luft geht, wenn es etwa einen Rasen betritt. Die Klugen gehen auch in keine Kirche oder Moschee mehr, weil sie es begriffen haben. Und eine Ehe entsteht dann, wenn es nicht gelungen ist, eine Beziehung in Freundschaft zu verwandeln.

Man könnte diese Weisheiten vielleicht mit pädagogischem Sarkasmus beschreiben, dabei ist fast alles logisch und kann genauso erzählt werden wie in einem gängigen Märchen.

Stalin ist nur ein anderer Name für die Leidenschaft, die in jedem von uns schläft. (20)

Im Krieg stehen alle unter Strom und man vögelt nie mehr so gut wie im Krieg, wenn man es wie Tiere im Überlebenskampf treibt. (70) Der Roman gönnt sich auch so etwas wie eine Rahmenhandlung. Der Ich-Erzähler arbeitet als Plakat-Macher an diversen Kampagnen, eine heißt kurz Rückkehr, man versucht, Weggezogene wieder in die kaputte Stadt zu locken. An seiner Eva arbeitet er sich ab, indem er meist über die gemeinsame Tochter zu ihr spricht. Eva sieht in der Stadt keine Zukunft, sie reist mit der Tochter ab, er könne ja nachkommen, heißt es lapidar.

Der Erzähler freilich muss zurückbleiben, schon wegen der Alpträume, Franz Ferdinand soll wieder kommen, und er muss ihn abermals erschießen. Er wird einen Internetroman schreiben, da ist es egal, wo man sitzt. Der Preis für die absolute Freiheit ist die absolute Einsamkeit. - Ein Aufarbeitungsroman, klar wie ein durchgehend wahres Sprichwort.

Nenad Velickovic, Der Vater meiner Tochter. Das zweite Buch der Logiergäste Roman. A. d. Bosnisch-Kroatisch von Mirija Ivanovic [Orig.: Otac moje kceri, Sarajevo 2000]
Klagenfurt: Sisyphus Verlag 2016, 210 Seiten, 14,80 €, ISBN 978-3-903125-06-3


Weiterführender Link:
Sisyphus Verlag: Nenad Velickovic, Der Vater meiner Tochter

 

Helmuth Schönauer, 12-01-2017

Bibliographie

AutorIn

Nenad Velickovic

Buchtitel

Der Vater meiner Tochter. Das zweite Buch der Logiergäste

Originaltitel

Otac moje kceri

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2016

Verlag

Sisyphus Verlag

Übersetzung

Mirija Ivanovic

Seitenzahl

2010

Preis in EUR

14,80

ISBN

978-3-903125-06-3

Kurzbiographie AutorIn

Nenad Velickovic, geb. 1962 in Sarajevo, lebt in Sarajevo.

Marija Ivanovic, geb. 1981 in Calw, lebt in Wien.