Charlie English, Die Bücherschmuggler von Timbuktu

titelbild: Charlie English, Die Bücherschmuggler von TimbuktuLesenden Patrioten drückt es heute noch das Wasser in die Augen, wenn sie sich daran erinnern, wie beim Brand der Wiener Hofburg 1992 die Feuerwehr im einen Abschnitt gelöscht und die Polizei im anderen Sektor wertvolle Bücher gerettet hat. In einer Bücherkette des Volkes werden die nationalen Schätze gerettet, obwohl niemand vor und nach dem Brand in diesen Büchern gelesen hat.

Bücher können die Seele und das Geheimnis einer Stadt sein, wie es das sagenumwobene Timbuktu beweist. Über diese Stadt in Mali steht in jedem Reiseführer, dass es sie zweimal gibt, einmal als realen Ort und einmal als Mythos von Schriften.

Der Journalist Charlie English nimmt den Putsch in Mali 2012 zum Anlass, um die Geschichte Timbuktus auf ungewöhnliche Weise aufzuarbeiten. Einmal fädelt er die Entdecker und Kolonialherren auf, die auf dem Weg nach Timbuktu verschollen gegangen sind oder auf dem Weg dorthin alles vernichtet haben, wie etwa die Belgier unter ihrem König Leopold. Zum anderen ist die jüngste Geschichte um Al Kaida in den Fokus der Berichterstattung geraten, als während der Despotie wertvolle Schriften angeblich vernichtet worden sind.

Der Autor stellt zwei Thesen über die Geschichte der sagenhaften Timbuktu-Bibliothek auf. Gemessen am Wüten der Europäer sind die Kämpfer Al-Kaidas ein Lercherlschas. Und wäre die Bibliothek nicht UNESCO-Weltkulturerbe gewesen, wäre ihr von vorneherein nichts passiert, da es sich ja in der Hauptsache um islamische Schriften handelt.

Unter den Schlagwörtern Besatzung, Zerstörung und Befreiung werden die Monate rund um die Revolte aus der Sicht eines Bibliothekars beschrieben, der sich als „Responsable“, als Verantwortlicher für Schriften versteht. Dieser Schatzverwalter hat die Angriffe der internationalen Kunsthändler-Lobby genauso abzuwehren wie die physischen Attacken auf den Manuskripte-Bestand. Als klar wird, dass die Rebellen die Bibliothek plündern werden, organisiert sich wie bei der Wiener Hofburg das Volk und schmuggelt die Bestände in kleinen Dosen aus der Stadt hinaus und den Fluss Niger hinunter.

Allmählich werden die Schätze jetzt nach der Befreiung wieder an die Originalstätten zurückgebracht, freilich ist einiges in den Kunstmarkt gewandert. So ist diese Al-Kaida-Story vielleicht eine große Tarnaktion gewesen, um die Sachen zu verscherbeln.

Charlie English erzählt die Geschichte Timbuktus als Geschäftsmodell zwischen Zerstörung und Mystifizierung. Allein die Überlegung, dass die entdeckenden und erobernden Europäer dumme Barbaren sind, die unter dem Deckmantel von Oxford-Bildung alles niedermetzeln oder aufkaufen, was sich ihnen in den Weg stellt, lässt die Geschichte der Kolonialisierung in einem neuen Licht erscheinen.

Und auch die Bibliothekare, die üblicherweise mit zittrigen Händen ins Ehrfurchtskoma verfallen, wenn sie ein altes Buch sehen, müssen sich die Frage stellen, ob sie nicht Teil eines Geschäftsmodells sind, das sie mit Lesemythen übertünchen.

Charlie English, Die Bücherschmuggler von Timbuktu. Von der Suche nach der sagenumwobenen Stadt und der Rettung ihres Schatzes, a. d. Engl. von Henning Dedekind und Heike Schlatterer [Orig.: The Book Smugglers of Timbuktu, London 2015]
Hamburg: Hoffmann & Campe Verlag 2018, 432 Seiten, 24,70 €, ISBN 978-3-455-50372-2


Weiterführender Link:
Hoffmann & Campe Verlag: Charlie English, Die Bücherschmuggler von Timbuktu

 

Helmuth Schönauer, 09-05-2018

Bibliographie

AutorIn

Charlie English

Buchtitel

Die Bücherschmuggler von Timbuktu. Von der Suche nach der sagenumwobenen Stadt und der Rettung ihres Schatzes

Originaltitel

The Book Smugglers of Timbuktu

Erscheinungsort

Hamburg

Erscheinungsjahr

2018

Verlag

Hoffmann & Campe

Übersetzung

Henning Dedekind / Heike Schlatterer

Seitenzahl

432

Preis in EUR

24,70

ISBN

978-3-455-50372-2

Kurzbiographie AutorIn

Charlie English, Redakteur beim Guardian, lebt in London.