Andrej Kurkow, Die Welt des Herrn Bickford

andrej kurkow, die welt des herrn bickfordWenn ein historischer Roman wahrhaftig angelegt ist, hält sich sogar die künftige Geschichte daran, aus einer Aufarbeitung der Geschichte wird eine Gebrauchsanweisung für die Zukunft.

Andrej Kurkow hat seinen ersten historio-grotesken Roman 1993 in Kiew verfasst und im kleinen Kreis im Untergrund verbreitet. Die frühen 1990er Jahre gelten in den GUS-Staaten mittlerweile als die Jahre von wirtschaftlichem Chaos aber intellektuellem Glanz. Alles gilt als aufgelöst und die neuen politischen Strukturen sind höchstens als Groteske zu erkennen.

Die Welt des Herrn Bickfeld ist ein mustergültiger antisowjetischer Clown-Roman, der Namensgeber ist jener britische Erfinder William Bickford, der quasi zeitgleich mit Goethes Tod die Zündschnur erfunden hat. Im Roman rennt denn auch einer der Protagonisten mit einer kontinentalen Zündschnur in der Hand durch die gesamt-sowjetische Taiga. Als man ihn fragt, ob er ein Terrorist sei, weiß er das genau so wenig wie die Lage jenes Dynamitschiffes, mit dem offensichtlich die Zündschnur verbunden ist.

Das ist vielleicht das beeindruckendste Bild, das je über die Sowjetunion verwendet worden ist. Die Menschen haben politische Zündschnüre in der Hand, wissen aber nicht, wo und warum die Ladungen hochgehen sollen. Eine Entscheidung ist schon längst vergessen, da geht nach Jahren weit entfernt etwas in die Luft, was mit dieser Entscheidung zu tun haben könnte.

Die Zündschnur erweist sich als jenes Rhizom, das die Poststrukturalisten einst besungen haben, das Rhizom ist die ideale Beschreibung der Sowjetunion jener Zukunft, in der die Krim wieder russisch ist.

Im Roman tauchen neben dem Zündschnur-Träger, der sich als unschuldiger Untermatrose ausgibt, diverse versprengte Truppenteile, Luftschiffer, Ex-Kommandanten oder Vertriebene auf. Einmal fragt jemand, ob es denn hier keine Leute gibt. „Früher gabs mal welche!“ lautet die lapidare Antwort, womit die Stalinistischen Umsiedlungen gemeint sind. (207)

Die angesprochenen Ereignisse stammen meist aus der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges und sind von einer Erinnerungsblase umgeben, die genaueres Hinsehen unmöglich macht. Auch der Haupterzähler, ein Luftschiff, das geräuschlos in den sibirischen Wäldern unterwegs ist, hält immer eine gewisse Höhe, sodass die gesehenen Ereignisse auch etwas anderes bedeuten können. (148)

Am Beispiel der hölzernen Glocke wird deutlich, dass einerseits alles und nichts möglich ist. Wegen Materialmangels bauen die Glockenmeister ihr Geläut aus Holz und bringen es mit dem Wind zum Klingen. Alles, was wir patriotisch vorgesetzt bekommen, ist vielleicht eine hölzerne Glocke.

Letztlich ist ein ganzes Land umgekrempelt und auf der Suche nach sich selbst, getreu der Parole:

Es gibt kein Gebot, dass man am Geburtsort so lange ausharren muss, bis der Tod kommt. (74)

Andrej Kurkow erzählt mit seinem frühen Werk die kommunistische Welt skurril-logisch, klar-blumig und schlitzohrig mehrdeutig. Es ist vermutlich so eine Heimtücke der Geschichte, dass sie die erzählte Farce aus vergangenen Tagen jetzt als Zukunftsperspektive auslegt.

Andrej Kurkow, Die Welt des Herrn Bickford. Roman, a. d. Russ. von Claudia Dathe [Orig.: Бикфордов мир, Kiew 1993].
Innsbruck: Haymon Verlag 2017, 405 Seiten, 22,90 €, ISBN 978-3-7099-7281-9


Weiterführende Links:
Haymon Verlag: Die Welt des Herrn Bickford
Wikipedia: Andrei Jurjewitsch Kurkow

 

Helmuth Schönauer, 19-02-2017

Bibliographie

AutorIn

Andrej Kurkow

Buchtitel

Die Welt des Herrn Bickford

Originaltitel

Бикфордов мир

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Haymon Verlag

Übersetzung

Claudia Dathe

Seitenzahl

405

Preis in EUR

22,90

ISBN

ISBN 978-3-7099-7281-9

Kurzbiographie AutorIn

Andrej Kurkow, geb. 1961 in Budogoschtsch/Leningrad, lebt in Kiew.