Matthias Politycki, Schrecklich schön und weit und wild
Reisen ist ein Teil des Konsums, weshalb sich in unserer Gesellschaft niemand daraus davonschleichen kann. Wer nicht selbst reist, zu dem kommen andere, um zu sehen, wie jemand Sesshafter ausschaut.
Matthias Politiycki reist, seit er auf der Welt ist, um die Welt. Als Kind ist er hinten in einem Käfer gesessen und hat noch nicht gewusst, dass es reisen heißt, wenn der Vater wie wild durch die Kurven fährt.
Wer reist, reist ein Leben lang. (103)
Anlässlich der großen Migrationswelle nach Europa im Jahre 2015 stellt der Autor freilich das Reisen auf den Prüfstand und kramt alle Erlebnisse und Faustregeln aus, um der simplen Frage nachzugehen, was Reisen von Flucht unterscheidet.
Beim Reisen geht es um die Erfüllung von Wünschen durch Konsum, bei der Flucht um Erfüllung des Überlebenswunsches. Allein durch diese Gegenüberstellung tun sich plötzlich neue Fragen auf: Warum treffe ich auf Reisen meist auf Arbeitslose und Tagelöhner, wenn ich den Touristenstrom verlasse, und wohin soll ich reisen, wenn es kaum mehr ein Land gibt, aus dem man unbeschadet wieder herauskommt? Und ist das Reisen nicht eine melancholische Angelegenheit, wenn man Jemen oder Palmyra in den nächsten Jahrzehnten nicht mehr aufsuchen kann?
Wichtig ist vor allem, dass man zu Hause etwas erzählt. Aus diesem Grund gibt es in diesem Essayband raffinierte Listen, etwa die Flops und Tops, die jeder persönlich zusammenstellen kann. Flops sind etwa Davos, Sinai oder die Schweinebucht, als Tops gelten Winter in St. Petersburg, Fes, Frauenchiemsee oder Wien als 1., 7. und 8. Bezirk.
Eine Liste der schönsten Frauen soll den doofen Bargesprächen Einhalt gebieten, wo angesoffene Männer über Frauen herziehen wie über Denkmale. Die ukrainischen Frauen sind die durchgestyltesten der Welt, in Korea wollen die Frauen schön sein, in Brasilien unterwirft sich die Schönheit dem Karneval.
Einen guten Tipp zum Angeben hat der professionelle Reiseschriftsteller ebenfalls auf Lager, immer ein Ereignis der zweiten Wahl als besonders edel hervorheben, es suggeriert Kompetenz, wenn man etwas als schön empfindet, was nicht im Reiseführer steht.
Im Laufe eines Reiselebens kommen nicht nur unendlich viele Fotos zusammen, sondern auch Grenzfälle, wo Reisen sinnlos wird. Ein Müllgebirge etwa in Kalkutta ist Sperrgebiet, das wie eine militärische Zone abgesperrt wird. Wenn der Körper erkrankt, kann es leicht lebensgefährlich werden. Der Autor berichtet von einer Knieverletzung, die ihm beinahe Amputation und Tod eingebracht hätte.
Natürlich gibt es auch an allen Ecken und Enden Absurdistan, wenn den Touristen etwas vorgegaukelt wird, was die Einheimischen schon bei der Darbietung selbst nicht für möglich halten. Und die oberste Faustregel spricht von der Sehnsucht, die dann entsteht, wenn man nicht über die Grenze darf. Nord- und Südkorea, ein Blick hinter Moldawien, eine Sicht-verschlossene Ebene in der Mongolei: Alles wird schön, wenn man nicht hindarf!
Matthias Politycki bietet durchaus gedankliche Tiefgänge für das Reisen an, wenn es einem an der glänzenden Oberfläche der Selfies einmal zu glatt werden sollte.
Matthias Politycki, Schrecklich schön und weit und wild. Warum wir reisen und was wir dabei denken
Hamburg: Hoffmann & Campe Verlag 2017, 347 Seiten, 22,70 €, ISBN 978-3-455-50426-2
Weiterführende Links:
Hoffmann & Campe Verlag: Matthias Politycki, Schrecklich schön und weit und wild
Wikipedia: Matthias Politycki
Helmuth Schönauer, 12-06-2017