Martin Dragosits, Weiße Kreide

martin dragosits, weiße kreideObwohl Lyrik ständig mit Schnappschüssen und Bildern arbeitet, zeigt sich in ihr immer auch eine Dynamik, eine Bewegung oder ein Lebenslauf.

Martin Dragosits arbeitet schon im Titel mit der Fügung von der weißen Kreide, die je nach eigener Erfahrung beim Leser das flunkernde Wissen an der Tafel evoziert, wo die weiße Kreide in der Hand während einer Prüfung zu Mehl zerbröselt ist. Anderen wird vielleicht ein Stück verfallende Insel ins Auge springen, wenn nach hohem Wellengang abermals und abermals ein Stück Kreide-Küste im Wasser liegt. Und dieses Zerbröseln der Zukunft liegt schließlich auch an den Göttern, wenn sie mit uns die letzte Runde spielen.

Vorbestimmt // Was werden wir am Ende / mehr sein / als Staub. / Die Götter mögen uns zum / Narren halten / da und dort. / In ihrem Spiel sind wir / ein Stück / weiße Kreide. (119)

Kapitelüberschriften lassen sich meist als Einstiege in lyrische Felder nützen, mal steigt man dadurch in die Vergangenheit hinein, mal überwindet man ein Sehhindernis, dann keimt wieder Zuversicht auf. Die sechs Einstiege dieses Bandes sind überschrieben mit: Revue, Gegenwartsfragen, Ringelspiel, Skizze, Provinz, Seitenweise. Dabei zeigt sich die Verfahrensweise, mit der in den Gedichten vorgegangen wird, um etwa geradewegs an ein Ziel zu gelangen, oder an anderer Stelle einfach eine Seite zu bewältigen.

In der Revue sind alle diese Typen zusammengefasst, die uns in der Kindheit, als Filmstars oder als Banknachbar vergangener Zeiten begleitet haben. Letztlich sind alle diese Welpenfänger, Möchtegern-Killer und Stars auf Zeit gescheitert und jetzt gefangen in einem Zeiterfassungsnetz.

Diesen Träumen ist das absichtslose Gedicht gegenübergestellt, das in ein prunkvoll-schlichtes Ergo-sum mündet.

Ich bin ein Gedicht, das nichts / will, gar nichts, überhaupt / nichts, nicht einmal nichts, weder / hier noch dort. Ich bin // ohne Besitzer, gehöre niemandem [...] (28)

Eine Zukunft voller Optimismus und Hinterhof-Glück wird augenzwinkernd im Gedicht von „mehr als drei Wünschen“ kundgetan. In einer sehr getragenen Sprache kommen dabei kleine Wünsche zum Vorschein, die fast an Schnäppchenangebote erinnern und denen nachzurennen es sich vielleicht für einen Vormittag lang lohnt:

dass dieses Land / sein Herz wiedergewinnt / eine Brille für den Blick / auf Schrebergärten / dass endlich / nach hundert Jahren / einen Schritt / über seine Grenzen macht / weiße Karten / im Hinterhof / mit Farbe füllt [...]. (39)

Immer wieder wird der lyrische Blick jäh angehalten, um vor einem Kleinod zu verweilen oder in einer Jahreszeit, die gerade auseinanderbricht als Gehölz des Herbstes. Da versteckt sich der November hinter Tageszeitungen, die mittlerweile am Display blau leuchten wie früher der Herbst.

Martin Dragosits kratzt an den Dingen, bis das Weiße der Kreide herauskommt. Seine Texte sind vorsichtig gestaltet, die Kreide ist nicht stabil und kann jederzeit einbrechen, mitten im Gedicht. Gerade diese Fragilität lässt einen oft den Atem anhalten beim Lesen.

Martin Dragosits, Weiße Kreide. Aus d. Reihe: Lyrik der Gegenwart 67
St. Wolfgang: Edition Art Science 2017, 121 Seiten, 15,00 €, ISBN 978-3-902864-69-7

 

Weiterführende Links:
Edition Art Science: Martin Dragosits, Weiße Kreide
Wikipedia: Martin Dragosits

 

Helmuth Schönauer, 12-07-2017

Bibliographie

AutorIn

Martin Dragosits

Buchtitel

Weiße Kreide

Erscheinungsort

St. Wolfgang

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Edition Art Science

Reihe

Lyrik der Gegenwart 67

Seitenzahl

121

Preis in EUR

15,00

ISBN

978-3-902864-69-7

Kurzbiographie AutorIn

Martin Dragosits, geb. 1965 in Wien, lebt in Wien.