Julien Gracq, Das Abendreich

julien gracq, das abendreichMagische Bücher, die uns ungefragt in den haptischen Textkorpus hineinziehen, haben meist selbst ein außergewöhnliches Schicksal.

Als Julien Gracq in den Sommerferien 1953 mit der Niederschrift des „Abendreichs“ beginnt, weiß er noch nicht, dass er den Roman nicht vollenden wird. Er ist Lehrer für Geographie und kann es kaum noch erwarten, im Herbst wieder zu unterrichten.

Nach dem Tod des Autors kommt das Roman-Fragment in den Nachlass und hat jetzt, in der Kiste der Zeitlosigkeit gereift, eine Aura, die nicht von dieser Welt ist. Die Landstriche der untergehenden Sonne, wie man das Fragment wörtlich übersetzen könnte, ist geladen von Geographie, Landschaft, Wegenetz, Höhenrelief und Gesteinsmorphologie. Ein Ich-Erzähler bewegt sich darin wie in Trance in einer Karl-May-Szenerie, andere stellen den Vergleich her mit Fantasy oder der Ritterei eines Tolkien.

Man sollte auf jeden Fall zuerst das Nachwort von Dieter Hornig lesen, dann wird man wie von selbst ins Innere des Romans geschleust.

Der Roman ist für ihn [Gracq] kein Mittel der Erkenntnis oder der Aufklärung, sondern eine ganz neue und extreme Erfahrung, vergleichbar einer Reise, einer Krankheit oder einer neuen Liebe. (215)

In den zwei Teilen tritt jeweils ein Ich-Erzähler auf, der seine Erfahrungen einmal als Beamter für das Kataster-Wesen von Alt-Berga macht, und einmal als Komtur-Meister eines geheimnisvollen Ritterordens auftritt. In beiden Sichtweisen steht ein Kleinstaat auf dem Spiel, oder sagen wir, ein Stück Geographie, das sich als Staat ausgibt. Vom Rand her wird dieses seltsame Gebilde von Feinden bedroht, die ständig aufmarschieren, während die offizielle Stellungnahme auf „Ruhe bewahren“ aus ist.

Der Erzähler ist ab jetzt ruhelos unterwegs, um die wichtigen Zitadellen zu kontrollieren, die Landschafts-Stimmung in der Provinz zu beobachten und etwaige Vorbereitungen zur Feindabwehr zu managen. In der Wahrnehmung geht es zu wie in einer Lasershow, in die Konturen sind Figuren eingearbeitet, durch der Farbgebung lässt sich die Stimmung im Lande messen und jedes Objekt wird zu einer Verschanzung.

Das alte befestigte Haus atmet tief in seinen Steinen unter diesem Panzer aus Hagebuchen. (97)

Der Held schafft mit seiner eigentümlichen Sprache und seinen Essay-Augen der Beobachtung eine eigene Wirklichkeit, die ihm selbst manchmal als bloße Aufzeichnung oder als Schlagschatten von etwas Unsichtbarem vorkommt. (203)

Für jeden von uns ist dieses Jahr das letzte, (151) sagt jemand und deutet damit an, was die Menschen alle mit diesem Stoff erwarten könnte. Am Schluss des Fragmentes sitzt der Held jedenfalls auf einem Wall, umgeben von Schemen und Schatten, und deutet zur Vorsicht alles kriegerisch. – Magisch und abgrundtief.
 
Julien Gracq, Das Abendreich. Roman, a. d. Französ. und mit einem Nachwort von Dieter Hornig [Orig.: Les Terres du Couchant, 2014]
Graz: Droschl Verlag 2017, 220 Seiten, 23,00 €, ISBN 978-3-85420-987-4

 

Weiterführende Links:
Droschl Verlag: Julien Gracq, Das Abendreich
Wikipedia: Julien Gracq

 

Helmuth Schönauer, 09-08-2017

Bibliographie

AutorIn

Julien Gracq

Buchtitel

Das Abendreich

Originaltitel

Les Terres du Couchant

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Droschl Verlag

Übersetzung

Dieter Hornig

Seitenzahl

220

Preis in EUR

23,00

ISBN

978-3-85420-987-4

Kurzbiographie AutorIn

Julien Gracq, geb. 1910, starb 2007 in Saint-Florent-le-Vieil.