Selim Özdogan, Wo noch Licht brennt

selim Özdogan, wo noch licht brenntWann immer die Wörter „türkisch“ und „deutsch“ in einem Satz zusammenstoßen, besteht für den Autor große Gefahr, gesucht, entführt und eingesperrt zu werden.

Selim Özdogan wendet sich unverfroren klar dem Thema der türkisch-deutschen Verhältnisse zu, er geht freilich allem Politischen aus dem Weg und nimmt das unscheinbarste Wesen beider Kulturen als Heldin: Gül ist eine vom Leben abgehärtete Frau, die im Ruhestand Bilanz zieht und unter den Familienmitgliedern dort nachschaut, „wo noch Licht brennt.“

Gül ist in einer frühen Anwerbungswelle nach Deutschland gekommen, ihr Mann Fuat hat so allerhand Jobs durchgemacht, bis er verschlissen ist. Auch sie ist sich für keine Arbeit zu schade, und als beide einmal in derselben Firma arbeiten, merkt sie, dass es ihr Mann mit der Arbeit nicht so genau nimmt. Korrektheit ist also nicht ein Fall der Kulturen, sondern eine individuelle Ausprägung.

Das Hin und Her bleibt das große Thema von Gül, die als geheimes Familienoberhaupt mittlerweile ausgleichend zwischen den Mitgliedern in Deutschland und zu Hause in der Türkei vermitteln muss. Sie selbst ist auch zwischendurch wieder zwanzig Jahre in die Kindheit zurückgekehrt und merkt in diesem ständigen Wechsel, wie sich beide Länder entwickelt haben. „In Deutschland waren wir alle gleich“ (322) sagt sie einmal, als sie zu Hause sieht, wie die Heimkehrer ihr Geld anzulegen versuchen.

Apropos anlegen, Gül hat ein Leben lang gespart, um sich ein erträgliches Leben im Alter leisten zu können und ist doch Opfer des Banken-Crashs geworden. Die Kohle macht keinen Unterschied, wer welcher Nationalität angehört. Die Nationalitäten werden pragmatisch gesehen, wenn man sich dadurch lange Warteschlangen erspart, macht es Sinn, die passende Staatsbürgerschaft zu beantragen. An der patriotischen Stimmung ändert das noch gar nichts.

Wir sind Anatolier. Mit der Erde verbunden. Nicht mit dem Wasser. (257)

Manchmal brechen archaische Erfahrungen durch wie eine Beschwörungsformel, denn der Lauf des Lebens ist letztlich eine biologische Angelegenheit. Fuat bekommt es wie alle Deutschen mit der Hüfte zu tun und muss operiert werden. In der Türkei redet man mehr darüber, meint er, aber sonst ist eine Hüfte eine Hüfte.

Die größte Veränderung zwischen den Kulturen bringt das Handy. In der Vorzeit hat sich Gül den Lohn oft in Münzen auszahlen lassen, mit denen sie von Telefonzellen aus zu Hause angerufen hat. Oft ist dabei der ganze Lohn dafür aufgegangen um zu wissen, wie es zu Hause steht.

Im Roman sind viele Lebensweisheiten versteckt, die zusammenkommen, wenn in einer großen Familie Glück und Unglück in großer Verlässlichkeit aufeinandertreffen. Für die großen Dinge des Lebens sind dabei die diversen Kulturen ungeeignet, sie helfen nicht einmal als Ausrede, denn der Lauf der Zeit rattert alle gleichermaßen nieder. Wichtig ist, dass man wach bleibt und jemand wird, wo noch Licht brennt. – Pure Lebenserfahrung zwischen den Kulturen.

Selim Özdogan, Wo noch Licht brennt. Roman
Innsbruck: Haymon Verlag 2017, 342 Seiten, 22,90 €, ISBN 978-3-7099-7299-1

 

Weiterführende Links:
Haymon Verlag: Selim Özdogan, Wo noch Licht brennt
Wikipedia: Selim Özdogan

 

Helmuth Schönauer, 21-08-2017

Bibliographie

AutorIn

Selim Özdogan

Buchtitel

Wo noch Licht brennt

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Haymon Verlag

Seitenzahl

342

Preis in EUR

22,90

ISBN

978-3-7099-7299-1

Kurzbiographie AutorIn

Selim Özdogan, geb. 1971, lebt in Köln.