Bosko Tomasevic, Der Abgrund unter jedem Grund

bosko tomasevic, der abgrund unter jedem grundSind im Existenzialismus überhaupt Gefühle erlaubt? Und wenn ja, stören sie dann nicht den Existenzkampf und lenken ab vom Thema Leben und Tod?

Bosko Tomasevic gilt als einer der konsequentesten „Daseins“-Lyriker, der seinen Stoff aus der Antike schöpft und vor allem den Hinterlassenschaften der Philosophen Hölderlin und Heidegger nachgeht. Seine Gedichte sind oft Antworten auf paradoxe Fragen, sie sind deshalb mit rätselhaften Überschriften ausgestattet, die der üblichen Sprachanwendung misstrauen.

Ankunft ohne Ankunft / Auf dem Weg, der nicht mein Weg war / Nähe zum Fernen – in diesen Widersprüchen ist das lyrische Ich meist gefangen und kann sich höchstens dadurch befreien, dass es die Gedankengänge einer Endlosschleife abbricht. Hinter diesen großen Zuständen und anonymisierten Bedrohungen kommen zwischendurch Fragen auf, die tatsächlich unter die eigene Haut gehen.

Ich will neben mir sein; es ist vollbracht, endlich; wie werde ich sterben?

Als Leser ist man von diesem gefangenen Ich höchst angetan, es entsteht sofort Sympathie, wenn man merkt, wie hier jemand die Fragen abarbeitet, die man selbst nicht aushält. Es entsteht so etwas wie Berührung, wenn man dem Helden zusieht, wie er gefangen ist als die berühmte Eintagsfliege im einzigen Tag. Manchmal muss man sich auch zerknirscht zeigen, wenn man die Fragen schon längst dort abgebrochen hat, wo sie erst losgegangen wären.

Wenn notwendig // Ich möchte nicht / selbst wenn notwendig / meine Abwesenheit bemerken / nach so schönem Währen / möchte ich keine Veränderung der Gewohnheiten / […]  (55)

Das lyrische Ich ist so hellwach, dass es selbst der eigenen Wachheit misstraut, das Schlimmste wäre ein Eingewöhnen in die Gewohnheit.

Und doch blitzt immer wieder eine irdische Lust auf, nicht allein zu sein, etwas in der Nähe zu haben, was wärmt, und wenn es nur das sprichwörtliche Moos ist, das einem naherückt.

Bosko Tomasevic gilt als Begründer der „Schule der wesentlichen Dichtung“. Darin tut sich eine Poesie auf, die ihr Verschwinden immer schon mit sich trägt. Im Idealfall spielt sich alles wie in der Natur ab und die Pflanzen und Tiere einer Saison sind in der nächsten Saison als Individuen nicht mehr zu erkennen, nur noch als gewesener Pflanzenbewuchs und Tierbestand.

Alles einst // Leer ist es einst / nur alles einst dauert / weilt im Nicht-Raum / alles einst / fällt wie Regen auf das Grab / duftet leicht nach Flieder / nach Lindentagen / bewahrt das Weiß der Dinge / Gesichter sind erstorben / ich lebe / wie einst / vor dem Vergessen (71)

Natürlich liegt eine schwere Melancholie über den Gedichten, aber das Ganze ist nicht hoffnungslos.

Bosko Tomasevic, Der Abgrund unter jedem Grund. Aus d. Reihe: Lyrik der Gegenwart 68, a. d. Serb. von Helmut Weinberger
St. Wolfgang: Edition Art Science 2017, 75 Seiten, 15,00 €, ISBN 978-3-902864-72-7



Weiterführende Links:
Edition Art Science: Bosko Tomasevic, Der Abgrund unter jedem Grund
Wikipedia: Bosko Tomasevic
Lesen in Tirol: Bosko Tomasevic: Ein literarisches Leben zwischen den Welten

 

Helmuth Schönauer, 23-08-2017

Bibliographie

AutorIn

Bosko Tomasevic

Buchtitel

Der Abgrund unter jedem Grund

Erscheinungsort

St. Wolfgang

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Edition Art Science

Reihe

Lyrik der Gegenwart 68

Übersetzung

Helmut Weinberger

Seitenzahl

75

Preis in EUR

15,00

ISBN

978-3-902864-72-7

Kurzbiographie AutorIn

Bosko Tomasevic, geb. 1947 in Becej (Voiwodina), lebt in Wien. Er war erster Stadtschreiber in Innsbruck.

Helmut Weinberger, geb. 1964, ist Slawist an der Universität Innsbruck.