Liam Callanan, Ich erfinde dir Paris

Längst ist Literatur ein globalisiertes Geschäftsmodell geworden, in dem Autoren ähnlich einem Spielerfinder mit allen Tricks versuchen, den Leser zu fesseln und für ein paar Stunden von dessen Realität abzuschnüren. Der moderne Roman gleicht oft eher einer Spielkonsole, mit der man sich wegzappt, als einer Anleitung, wie man die weggezappte Welt aushalten könnte.

Eine ganze Industrie von Creative Writing wirbt quer über den amerikanischen Kontinent jedes Semester um neue Schüler, und die Professoren verfassen dabei Romane, worin sie ihre Writing-Thesen ausprobieren. Zumindest die Schüler müssen das alles lesen, womit sich eine satte Buch-Auflage verkaufen lässt.

Liam Callanan unterrichtet Creative Writing in Milwaukee, in seinem Roman „Paris by book“ zeigt er, wie man aus der Welt der Realität abhauen muss, um mit allen Sinnen in der Fiktion zu landen. Von der Aufgabenstellung her gesehen geht es um die Erschließung einer Stadt als Mythos, der sich später auch touristisch ausschlachten lässt.

Erzählt wird das fiktionale Verwirrspiel aus der Sicht der tapferen Leah, die sich über das Kinderbuch des roten Luftballons auf den Schriftsteller Robert einlässt, der ihr verspricht, Paris als Sehnsuchtsort so heftig aufzubereiten, bis sie darin glücklich wird. Prompt heiratet sie ihn, es kommen Zwillingstöchter zur Welt und Robert unternimmt tatsächlich alles, um den US-Bundesstaat Wisconsin zumindest geographisch umzuschreiben. Diverse Wildnis-Orte der freien Fläche werden zu poetischen Oasen und Hauptstädten umoperiert, sodass man übers Wochenende nach Paris, Berlin oder London fahren kann, ohne einen Flieger zu besteigen.

Wir fuhren an all diese Orte, ohne Wisconsin je zu verlassen. (43)

Freilich werden die Schreibkrisen bei Robert immer heftiger, es wuchert wie bei allen großen Schriftstellern fallweise eine Depression aus, die nur durch Abhauen von der Familie bewältigt werden kann. Doch dieses Mal scheint das Verschwinden endgültig zu sein, Leah steht mit den Töchtern da und hält eine Buchstabenkombination in den Händen, die auf einen Flug nach Paris in Europa hindeutet.

Tatsächlich fliegen Leah und die Töchter nach Paris und eröffnen einen kleinen Laden mit englischsprachiger Literatur. Während sie Ausschau nach dem verschwundenen Robert halten, deuten sie jede Kleinigkeit als Lebenszeichen. Einmal nach einem Segelboot-Unglück würde alles auf Robert passen, nur fehlt eben die erlösende Leiche.

Die diversen Kundenwünsche im Laden erschließen einen ganzen Kosmos von Welten, denn die Bücher entfalten sofort eine eigene Aura, sobald man sie aufschlägt. Neben dem Buch vom roten Luftballon, das den Alltag poetisiert, ist es vor allem das Schicksal des in Meran geborenen Reiseschriftstellers Ludwig Bemelmans, der das Trio in Paris begleitet. Am Abend, bei der Durchsicht der Videoüberwachung, taucht öfter Robert auf, schemenhaft und grobkörnig, wie Überwachungsbilder eben sind.

Als schließlich der Mietvertrag ausläuft, entdecken die Familien-Hinterbliebenen ein Buch von Robert, worin er ihnen ein neues Paris erschreibt. Das Buch heißt „Paris by book“ und ist im Inhalt jenes, das man als Leser gerade vollendet hat. Mit einem generellen Lob auf die Bücher endet der Roman, die Erzählerin und gefühlte Witwe muss sehen, wie sie mit der Realität außerhalb der Fiktion zurechtkommt.

Robert hat, während er noch anwesend und bei Sinnen war, immer von der Kunst der „Self-fiction“ geschwärmt, die vor allem bei den Studenten gut ankommt. Jetzt hat er offensichtlich für uns Leser eine eigene Vorlesung daraus gemacht. Sehr verspielt und amerikanisch schön.

Liam Callanan, Ich erfinde dir Paris. Roman. A. d. Amerikan. von Juliane Zaubitzer [Orig.: Paris by book, New York 2018]
Hamburg: Atlantik Verlag 2018, 381 Seiten, 20,60 €, ISBN 978-3-455-00406-9

Weiterführende Links:
Atlantik Verlag: Liam Callanan, Ich erfinde dir Paris
Wikipedia: Liam Callanan

Helmuth Schönauer, 20-08-2018