Monika Mader (Hg.): Raues Leben, großes Sterben

monika mader, raues leben, großes sterbenFür Germanisten ist nicht nur die Welt, sondern auch der Nutzen eines Buches überschaubar. Ein Buch wird in diesen Kreisen gelesen, um sich entweder prüfen zu lassen oder selber den nächstbesten zu prüfen. Diese Meister des Lektüre-TÜVs können es sich nur schwer vorstellen, dass man aus so gut wie jedem Buch einen Nutzen ziehen kann, wenn man sich nicht selber im Wege steht.

Das Tagebuch eines Feldkaplans mag auf den ersten Blick nicht leicht als Sinn-Quelle eingestuft werden, aber schon beim Anblättern der Vorwörter ist man überrascht, wie notwendig dieses Buch eigentlich ist.

Karl Gögele wird zu Beginn des Ersten Weltkriegs als Sanitätskaplan an die Ostfront geschickt. Schon vom ersten Tag an bedient er ein Tagebuch, das Jahr 1914 deckt der Band „Hinter den Fronten Galiziens“ ab. Der vorliegende Band kümmert sich um die Jahre 1915-1918, wobei das letzte Halbjahr in Pordenone an der Italienfront „spielt“.

In einer Einbegleitung von Erwin Schmidl wird unter anderem von der Brussilow-Offensive 1916 berichtet, die sich in der Fügung zusammenfassen lässt, dass dabei die Menschen so lange in die MG des Gegners getrieben werden, bis die gegnerische Munition fertig ist und die Stellung eingenommen werden kann. Dieser Ausdruck taucht hundert Jahre später ab und zu in den Diskussionsforen auf, wenn es darum geht, unfassbare Menschenopfer darzustellen, wie sie mancherorts im Zusammenhang mit der Migrationsbewegung über das Mittelmeer für möglich gehalten werden.

Der zweite Vor-Aufsatz von Benjamin Grilj ist eine kulturwissenschaftliche Betrachtung Wolhyniens mit der Stadt Kowel, worin die Sanitätseinheit Gögeles stationiert ist. Von Wien aus gesehen sind Wolhynien und Südtirol gleich weit entfernt, beide Gegenden werden als politische Verhandlungsmasse gesehen, der Inhalt oder gar die Bewohner interessieren in Wien niemanden. Dieses Wolhynien wird in jüngerer Zeit immer wieder zitiert, wenn es um den Doppelpass (manche sagen Doppel-Spaß) für die Südtiroler geht. Dieser Aufsatz ist ein gutes Argument dafür, dass man den Doppelpass auch den Ukrainern geben muss, wenn man ihn den Südtirolern gibt.

Die Herausgeberin Monika Mader berichtet neben Fragen zur Editionstechnik, wobei ja die Kurzschrift der Tagebücher mühsam in Langschrift übertragen worden ist, in ihrer Einbegleitung über die wichtigsten Daten, Fakten, Lagen und Berufsgruppen, die im Sanitätskessel aufgekocht sind. Manche sprechen dabei vom zweiten Schlachtfeld, das sich hinter der Front auftut, und wo in der Hauptsache amputiert und gestorben wird.

In dieser Einführung kommen auch die Schwestern des Deutschordens kurz zum Vorschein, sie werden vom Tagebuchführer knapp und geschichtslos gehalten. Sie spielen aber eine Sonderrolle in der Sexualität, denn am zweiten Schlachtfeld sind vor allem die Frauen als Sexualobjekte „drangekommen“. Oft sind die Aufwendungen für Geschlechtskrankheiten genauso umfangreich wie jene für die primären Schlachtopfer.

Der Feldkaplan ist naturgemäß für das endgültige Sterben zuständig, das sich am Krankenbett, beim Antransport, zwischen den Gleisen oder auch bei Exekutionen abspielt. Da er sowohl neugierig als auch Foto-firm ist, wird er mit einer Kamera ausgestattet und lichtet alles ab, was amtlich mit dem Sterben zu tun hat. Nebenher interessiert er sich vor allem für die Fliegerei und ist ständig am Flughafen Kowel, um aus erster Hand Nachrichten von der Front aufzufangen. Zwischendurch knipst er das karge Leben der Einheimischen, die meist bei der Arbeit zu sehen sind. Fast immer sind es die Frauen, die aus den Bildern schauen, die Männer sind ja an der Front oder hängen am Galgen, den der Feldkurat stets im Auge hat.

Im Stile der Tagebuchaufzeichnungen sind diese Bilder auch sorgsam beschriftet. Einmal heißt es:

Der junge Ruthene Wasyl Charuk als Leiche, gestorben am 11. Juni 1917. (379)

Die Eintragungen beginnen immer mit dem erzählerischen „Heute“, das dem ewigen Ablauf von Krieg, Elend und Tod jeden Tag einen besonderen Akzent verleihen soll. Der äußere Ablauf in der Sanitätskaserne ist militärisch, es gibt Nummern statt Personen, Gelände statt Landschaft, und Material statt Menschen. Aber einmal angeschossen oder von Splittern durchsiebt, wird das Fleisch noch einmal menschlich, ehe es stirbt.

Bilder und Eintragungen kriechen dreidimensional unter die Haut. Einmal geht der Blick des Bildes ins Leere und es steht etwas wie Kälte darunter. In solchen Augenblicken werden die Tagebücher Karl Gögeles auch noch zur Kunst. Das ist vonnöten, denn anders ließe sich das raue Leben und große Sterben nicht aushalten, auch nach hundert Jahren nicht.

Ein Tagebuch zu schreiben kann durchaus zum Glück beitrage, wenn es sich etwa um einen Bibliothekar handelt, der sich um jene Literatur kümmert, die beinahe schon während des Druckes verlorengegangen ist. Ein Tagebuch dient aber auch dem puren Überleben, wenn sein Autor bis zu den Hüften im Blut des Weltkriegs steht und in einem Spital die Übersicht zu bewahren versucht. Nach so einem Glücksfall wie ihn Monika Mader ediert hat, ist man völlig hingerissen von der Form des Tagebuchs. Vielleicht ist es die Antwort auf die Globalisierung, weil das Universum dabei von einem analogen Menschen aufgezeichnet wird.

Monika Mader (Hg.), Raues Leben, großes Sterben. Feldkaplan Karl Gögele und sein Deutschordensspital, Tagebücher 1915-1918
Bozen: Edition Raetia 2018, 551 Seiten, 35,00 €, ISBN 978-88-7283-628-6

 

Weiterführender Link:
Edition Raetia: Monika Mader (Hg.): Raues Leben, großes Sterbe

 

Helmuth Schönauer, 05-07-2018

Bibliographie

AutorIn

Karl Gögele

Buchtitel

Raues Leben, großes Sterben. Feldkaplan Karl Gögele und sein Deutschordensspital, Tagebücher 1915-1918

Erscheinungsort

Bozen

Erscheinungsjahr

2018

Verlag

Edition Raetia

Herausgeber

Monika Mader

Seitenzahl

551

Preis in EUR

35,00

ISBN

978-88-7283-628-6

Kurzbiographie AutorIn

Monika Mader, geb. 1959, lebt in St. Leonhard im Passeier.

Karl Gögele, geb. 1879 in Lana, stationiert als Feldkaplan in Galizien 1914-1918, starb 1939 in St. Leonhard.