Karl Kollmann, Die neuen Biedermenschen

karl kollmann, die neuenbiedermenschen„Es geht in diesem Buch um eine Beschreibung der neuen Biedermenschen, der Postmaterialisten, jenes neuen »Juste Milieu«, das sich als fortschrittliche, weltoffene und vor allem tonangebende Großgruppe der gegenwärtigen Gesellschaft versteht.“ (S. 7)

Der Soziologe Karl Kollmann beschäftigt sich in seinem durchaus emotional verfassten und mit wenig verstecktem Ressentiment durchzogenen Sachbuch mit dem „linksliberalen Milieu“ das sich von der rebellischen „68er-Bewegung“ zur moralisierenden und tonangebenden identitätspolitischen Linken gewandelt hat.

Um die Gegenwart zu verstehen, ist es wichtig, seinen Blick zurück in die Vergangenheit richten und so setzt sich Kollmann zunächst mit den Verhältnissen in den 1960er Jahren auseinander, als die Jugendbewegung den Aufstand gegen verkrustete Strukturen und Konventionen plant. Er beschreibt die gesellschaftlichen Veränderungen in der Zeit des Wirtschaftswunders, als Vollbeschäftigung, technischer Fortschritt und materieller Aufstieg für breite Schichten der Gesellschaft in Aussicht standen und politisches Aufbegehren Erfolge zeigte. Die jugendliche linke Protestkultur wird vor allem als städtisches Phänomen verstanden, während die Landjugend weitgehend konservativ verblieben ist.

Mit dem Eintritt dieser Generation in die Berufsarbeit, der Ölpreiskrisen in den 1970er und 1980er Jahren und der beginnenden Ökologiebewegung entwickelt sich eine postmaterialistische Haltung, für die nicht mehr einzig der materielle Wohlstand im Mittelpunkt stand, sondern ein erfülltes Leben, Freiheit und Meinungsfreiheit sowie Individualität, Umweltverträglichkeit und Harmonie mit Natur.

Mit dem Ende des kalten Krieges und dem Niedergang des Kommunismus geht der Kapitalismus als Sieger und alleiniges Denk- und Lebensmodell hervor, was vor allem für die Linke zur Folge hatte, dass sie sich wirtschaftspolitischen und sozialen Themen abzuwenden begann und gesellschaftspolitischen Fragen zuwandte. Die neue linksliberale Mittelschicht ist von durchaus widersprüchlichen Vorstellungswelten der „68er-Zeit“ geprägt wie Individualität, Diversität, Multikulturalität und Freiheit vom Staat. Sie sieht sich antinationalistisch, friedlich, europäisch, globalistisch aber gegen globalen Handel, ökologisch, tierschützend, regional, vegetarisch, antideutsch, zeigt aber trotzdem ein paternalistisches Staatsverständnis und legt besonderen Wert auf politisch korrekte Sprache.

Als Resümee macht Kollmann eine tiefe gesellschaftliche Kluft zwischen zwei großen, unversöhnlichen gesellschaftlichen Gruppen aus, von denen eine weltoffen sein will, mit einem „mitunter ans Hysterische grenzenden Gerechtigkeitsempfinden“ und „zugleich einem marktradikalen (neoliberalen) Leistungsverständnis“ (S. 199).

Alles, was außerhalb dieses Verständnisse liegt, gilt als rechts, als Erbe des Faschismus. (S. 199)

Auf der anderen Seite steht die Gruppe der „kulturell Abgehängten“, die sich aus der alten und kleiner werdenden Mittelschicht und der alten Unterschicht zusammensetzt und die sich von der Geschwindigkeit der gesellschaftlichen Veränderungen bedroht sehen und die neue linksliberale Sichtweise als aufgezwungen erleben.

Karl Kollmann porträtiert in einem launig geschriebenen Sachbuch das linksliberale Milieu, das zunehmend die kulturelle Hegemonie und den politischen Diskurs bestimmt, und das er mitverantwortlich für die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Spannungen macht.

Ein überaus lesenswertes Sachbuch, das wichtige historische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen der letzten Jahrzehnte erhellend ins Gedächtnis ruft und interessanten soziologische und psychologische Deutungen bietet. Dass er dabei nicht ganz emotionslos an die Sache herangeht, macht seine Analyse angreifbar aber nicht weniger diskussionswürdig.

Karl Kollmann, Die neuen Biedermenschen. Von der 68er-Rebellion zum linksliberalen Establishment
Wien: Promedia Verlag 2020, 140 Seiten, 19,90 €, ISBN 978-3-85371-469-0

 

Weiterführende Links:
ProMedia Verlag: Karl Kollmann, Die neuen Biedermenschen
Wikipedia: Karl Kollmann

 

Andreas Markt-Huter, 24-09-2020

Bibliographie

AutorIn

Karl Kollmann

Buchtitel

Die neuen Biedermenschen. Von der 68er-Rebellion zum linksliberalen Establishment

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2020

Verlag

Promedia Verlag

Seitenzahl

140

Preis in EUR

19,90

ISBN

978-3-85371-469-0

Kurzbiographie AutorIn

Karl Kollmann wurde 1952 in Heidenreichstein, in Niederösterreich, geboren und war promovierter Soziologe und habilitierter Ökonom. Er starb im September 2019 in Baden bei Wien.