Sabine Gruber, Stillbach oder Die Sehnsucht

Buch-Cover

"Heutzutage muss alles echt wirken, auch wenn es ein Fake ist." (330) - Sabine Gruber erzählt genau auf jenem oszillierenden Kamm, an dem sich scheinbar Fiktion und Fakten scheiden, dabei sind beide Welten gleich wahrscheinlich und aufregend.

Allein schon der "oder-Titel" in Gestalt eines Broch-Romans deutet darauf hin, dass man alles auch anders lesen kann.

Stillbach ist ein kleiner Ort in Südtirol, von dem die Sehnsucht nach Geschichte ausgeht. Die Protagonistinnen brechen aus Stillbach aus, um in der Welt ihre Sehnsucht zu stillen. Wie in einem historischen Gemälde gibt es einen schweren Rahmen, der mit der Gegenwart verschweißt ist, und eine Innen-Story.

Im Rahmen-Roman erfährt Clara, dass ihre Freundin Ines in Rom verstorben ist, ihr werden auch die ersten Teile des Nachlasses überreicht und sie beschließt, die Wohnung der verstorbenen in Rom aufzulösen. Beide Frauen stammen aus Stillbach und haben sich später in der Welt verloren. Aus den ersten Notizen heraus knüpft Clara Kontakte und stößt dabei auf den Historiker Paul, der offensichtlich über die jüngere Zeitgeschichte Roms forscht, er stellt sich als loser Liebhaber von Ines heraus.

Der Innen-Roman besteht aus einem Manuskript der Verstorbenen, worin eine Ich-Erzählerin ihren Arbeitseinsatz in einem römischen Hotel um das Jahr 1978 herum beschreibt. Das Hotel wird von der ehemaligen Stillbacherin Emma geführt, die zu faschistischen Zeiten nach Rom gezogen ist, teils aus Liebschaft, teils aus Selbstbefreiungsgründen.

Die Erzählerin erlebt die aktuelle Zeitgeschichte, die im Tod von Aldo Moro kulminiert. Wie in einem klassischen Hotel-Roman wechseln sich die Enge der Arbeitswelt und der Weltflair der Gäste im Stundentakt ab. Als die Erzählerin fälschlich des Diebstahls bezichtigt wird, muss sie ohne Entlohnung gehen. Sie fährt mit den letzten Münzen nach Stillbach zurück.

Jetzt setzt wieder der Rahmen-Roman ein. Der Historiker Paul kommentiert das Manuskript aus historischer Sicht und erzählt von seinen Forschungen über die Verquickung von Südtirolern bei der Fluchthilfe von Nazis. Clara interessiert vor allem die Innensicht der Dinge, die Ines dargestellt hat. Irgendwie stellt sich die Frage, wohin mit dem Nachlass. Und hier schließt der Roman elegant an die literarische Realität an. "Sie kannte offensichtlich Sabine Gruber." (359) Diese wird wohl den Roman publizieren.

Ein Glossar mit den historischen Personen verleiht dem Roman die seriöse Verankerung in der Zeitgeschichte. Dass die Fiktionalisierung ein Luder ist, zeigt sich an einer kleinen Sequenz im Manuskript. Da ist von Bauerntöchtern, deren Väter EU-Förderung erhalten, die Rede, (219) bloß gab es 1978 keine EU, die wurde erst 1993 installiert.

Stillbach oder Die Sehnsucht ist ein raffiniert durchkomponierter Versuch, die Integration eines kleinen Ortes in der nationalen Geschichte zu installieren, Südtirol mit Rom zu versöhnen, die Emanzipation mit der Arbeitswelt. Sabine Gruber erzählt konzentriert und mit Hingabe, und hat dennoch das ironische Zwinkern im Augenlid, etwa wenn sie den Forellen-Sex beschreibt oder das Verlagswesen, das sich postmodern zwischen Romantik und Pragmatismus eingereicht hat. - Ja, dieser Roman ist vollkommen echt!

Sabine Gruber, Stillbach oder Die Sehnsucht. Roman
München: C. H. Beck Verlag 2011, 378 Seiten, 20,60 €, ISBN 978-3-406-62166-6

 

Weiterführende Links:
Homepage: Sabine Gruber
C.H.Beck-Verlag: Sabine Gruber, Stillbach oder Die Sehnsucht

 

Helmuth Schönauer, 14-08-2011

Bibliographie

AutorIn

Sabine Gruber

Buchtitel

Stillbach oder Die Sehnsucht

Erscheinungsort

München

Erscheinungsjahr

2011

Verlag

C. H. Beck Verlag

Seitenzahl

378

Preis in EUR

20,60

ISBN

978-3-406-62166-6

Kurzbiographie AutorIn

Sabine Gruber, geb. 1963 in Meran, lebt im Wien.