Andrea Winkler, Die Frau auf meiner Schulter

andrea winkler, die frau auf meiner SchulterGute Romane lösen schon im Titel ein Rätsel oder gar eine Geschichte aus. Die Frau auf meiner Schulter ist vielleicht ein Lebensentwurf, der auf der Erzählerin sitzt wie die Welt auf dem mythologischen Atlas.

Andrea Winkler lässt im Roman „Die Frau auf meiner Schulter“ auf engstem Erzählraum eine Erzählerin zu sich selbst kommen, indem sie sich eine poetisch-therapeutische Auszeit nimmt. In der vernetzten Gesellschaft ist mittlerweile selbst das Aussteigen daraus ritualisiert und zu einem Geschäftsmodell geworden.

Die Ich-Erzählerin Martha hat offensichtlich einen Tapetenwechsel nötig, vielleicht auch eine Umstellung des Lebens. Jedenfalls mietet sie sich unter Verwendung möglichst unversehrter Bilder und Vorstellungen in einem Häuschen in der Natur ein. Der frühere Besitzer liegt auf dem Friedhof und kann bei kleinen Frischluftrunden melancholisch besucht werden, während in seinem Haus noch diverse Gerätschaften herumliegen, die gut sind für eine Erinnerungsdialyse. Gerade am Dachboden liegen Regenschirme und andere poetische Utensilien herum, die quasi von sich aus eine Geschichte erzählen. So lässt sich das bisherige Leben in ein neues verwandeln, indem man im abgeschiedenen Ambiente die Alltagskarten neu mischt.

In einer Art Tagebuch referiert die Heldin über ihre Fortschritte. Zwischen Jänner und Juni macht vor allem zuerst das Wetter Fortschritte, ehe diesen die Erzählerin folgen kann. Die Gegend ist idyllisch, weil entlegen, heruntergekommen und nutzlos im volkswirtschaftlichen Sinn. Eine Zuckel-Bahn fährt in eine größere Stadt, in ihr sitzen lauter Abgehängte oder Burnout-ler, die mit der Bundesbahn eine Reha-Runde drehen.

Sonst ist alles da, was man braucht. Wie in einem schlichten Aquarell schlängelt sich ein Fluss durchs Gebiet, das Dorf ist beschützt von einer Ruine, und alles lässt sich in analogen Schritten abgehen ohne Netzausfall.
Bei den Spaziergängen tauchen dann zwei Frauen auf, die ein neues Leben beginnen wollen und Arbeit oder künstlerische Verwirklichung suchen. Und dann gibt es noch diesen ausgiebigen Briefverkehr mit Benjamin, der einfach ein Zeitfenster aus Papier aufmacht und darin ein Stück Leben und Liebe hineinschreibt.

Manchmal schreckt die Erzählerin auf: nichts, nur ein Traum!

Zentraler Gast ist ein Papierstuhl geworden, der als Dekorationsobjekt mittlerweile zu einem Zeremonienmeister aufgestiegen ist. Allmählich ergeben sich abendliche Runden, in denen allerhand Geschichten erzählt werden, sehr zurückhaltend und sinnsuchend. Kurz vor Ende der Tour kommt dann auch Benjamin auf Besuch, jetzt scheinen alle schon ziemlich gefestigt zu sein, zumal ja der Sommer ansteht. Es schaut gut aus, mit der Auszeit, es ist ein dichtes Halbjahr geworden, worin die Kindheit sehr Erinnerungs-stark hat herausgearbeitet werden können, die Störungen sind mit neuen Geschichten abgestützt und mit Keilen unterlegt worden.

Im Juli ist dann das Bankkonto leer und „die Zeit hier neigt sich dem Ende zu“. Sehr poetisch verbeugt sich die Heldin am Schluss auf einer Lichtung und schickt einen Gruß an den Wald.

Andrea Winkler erzählt auf der ersten Ebene sehr imaginationsgläubig mit diesen Bildern, die man oft ins Ansuchen für ein Reisestipendium schreibt, wenn man sich ein halbes Jahr lang bei einem Stipendium über sich klar werden will. In der Sub-Ebene freilich werden diese Bilder aufgeweicht mit der Kühnheit eines psychischen Klienten, der sich plötzlich getraut, die Diktion des Therapeuten zu übernehmen. Motive vom entlegenen Landleben sind oft kühner als das Bio-Schweinchen von Billa, dann aber werden diese Sequenzen wieder abgelegt, die Erzählerin schlüpft aus diesem Vokabular wie aus den Wanderschuhen, wenn die Wanderung vorbei ist. Gerade dass nichts passiert, als dass jemand aussteigt, macht den Ausstieg recht glaubwürdig.

Erfahrene des Literaturbetriebs sind an unzählige Erzählungen erinnert, wenn jemand von einem Schreibstipendium zurückkommt und erklärt, es war nichts, aber ich habe es aufgeschrieben. Süffisant schön!

Andrea Winkler, Die Frau auf meiner Schulter. Roman
Wien: Zsolnay Verlag 2018, 189 Seiten, 21,60 €, ISBN 978-3-552-05904-7

 

Weiterführende Links:
Zsolnay Verlag: Andrea Winkler, Die Frau auf meiner Schulter
Wikipedia: Andrea Winkler

 

Helmuth Schönauer, 30-07-2018

Bibliographie

AutorIn

Andrea Winkler

Buchtitel

Die Frau auf meiner Schulter

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2018

Verlag

Zsolnay Verlag

Seitenzahl

189

Preis in EUR

21,60

ISBN

978-3-552-05904-7

Kurzbiographie AutorIn

Andrea Winkler, geb. 1972 in Freistadt, lebt in Wien.