Gertraud Klemm, Hippocampus

gertraud klemm, hippocampusJeder Mensch trägt ein Seepferdchen im Hirn spazieren, im Gehirn liegt nämlich der sogenannte Hippocampus. In diesem Denklappen in Gestalt eines Seepferdchens werden Daten verknüpft und zwischen Kurz- und Langzeitgedächtnis hin und her geschaltet. Wer den Hippocampus klug zu verwalten vermag, kann mit Denkgewinn Zeitloses als aktuelle Gegenwart ausgeben und umgekehrt.

Gertraud Klemm versteckt in ihrem grotesken Roman Hippocampus allerhand Literaturtheorien und kleidet sie mit vulgärem Schamott aus. Im Roman rasen Held und Heldin physisch durch den Kunstbetrieb und markieren an vorgeblich wichtigen Schnittstellen zwischen Kunst und Kritik wie wild gewordene Hunde, indem sie Installationen aus Fäkalien und Imitationen von Genitalien hinterlegen.

Geheime Ur-Mutter dieser Kunst ist eine frisch verstorbene Schriftstellerin, die mit emanzipativer Literatur Furore gemacht hat und prompt aus dem Literaturpreis-Karussell hinausgeschleudert worden ist. Jetzt, anlässlich ihres Todes, oder weil man einfach ihren 65er feiern will, soll sie einen großen Preis kriegen und in die literarischen Handbücher eingehen.

Dem stellt sich ihre Notfreundin und Nachlassverwalterin Elvira in den Weg, indem sie den vermüllten Wohnsitz Marke Mayröcker sichtet und aus den defäzierten Papieren der Ausgeschiedenen ein Gesamtkunstwerk zusammenstellt, das an diversen Orten installiert werden soll. Helfende Hand ist der junge Kameramann Adrian, der einerseits als sexueller Aufputz dient, andererseits alles, was irgendwie kaputt nach Kunst riecht, mit Videos dokumentiert.

Als Handlungsstrang dient das Leben der Verstorbenen, sofern es sich rekonstruieren lässt. „Ihre ganze Biographie wurde unheilbar verletzt.“ (229) In den Entwürfen und Aufzeichnungen findet sich auch ein Essay über den Hippocampus, der sich zu einer feministischen Literaturtheorie ausbauen lässt. Denn eines lässt sich bald einmal feststellen:

Heute ist der Literaturbetrieb ein Kindergarten für Schwererziehbare. Jeder darf alles. (50)

Elvira erarbeitet einen eigenen Literaturpfad, der an entscheidende Hotspots der Biographie führt. So wird eine Gedenktafel zur Errichtung einer Wasserleitung mit stinkenden Windeln umwickelt, weil man die Leistung des damaligen Bürgermeisters gewürdigt hat, nicht aber die Autorin, die mit dieser Wasserleitung als Alleinerziehende die Windeln ihrer Kinder gewaschen hat. An anderer Stelle wird ein Hochstand mit Fäkalien behübscht, weil daraus ein Jäger im Männlichkeitswahn einen Bären geschossen hat, den die Autorin liebgewonnen hatte.

Insgesamt weist dieser Pfad zwölf Stationen auf und simuliert eine Art Kreuzweg, den Frauen in der Gedenkkultur durchschreiten müssen, wenn sie auf die männlichen Erinnerungsdevotionalien hinweisen. Im Appendix sind diese Installationen wie in einem echten Katalog zusammengefasst. Da wird ein Kriegerdenkmal emanzipiert, eine Preisverleihung richtiggestellt, ein Ingeborg-Bachmann-Salat angerichtet und schließlich in einem neapolitanischen Museum eine Vulva ausgepackt. Markenzeichen ist immer ein Seepferdchen, das als Schablonenzeichnung hinterlegt wird.

Während der Aufarbeitung des Nachlasses durch Installation desselben verschwinden sämtliche Urheberschaften. Was ist der Verstorbenen zuzuordnen, was entwickelt als Nachlass ein Eigenleben, was ist pures Management in einem wildgewordenen Literaturbetrieb?

Gertraud Klemms Groteske wird mit der Zeit zu einer Dokumentation der Realität. Die Protagonisten werden zu Figuren eines Romans, der vielleicht ein Fake ist, und den es gar nicht gibt. In der künstlichen Presse ist von einer Drohnenkönigin die Rede, die über dem Gelände herumsurrt und alles abscannt für einen Metaroman. Und dann verirrt sich doch noch etwas Romantisches in das verquere Literaturspiel:

Wer die Revolution nicht anstrebt, hat kein Recht auf Unzufriedenheit. (350)

Egal, wer das gesagt hat, es hilft auf jeden Fall weiter, wenn im Hippocampus wieder einmal ein Schalter umgelegt werden muss.

Gertraud Klemm, Hippocampus. Roman
Wien: Kremayr & Scheriau Verlag 2019, 379 Seiten, 22,90 €, ISBN 978-3-218-01177-8

 

Weiterführende Links:
Kremayr & Scheriau: Gertraud Klemm: Hippocampus
Wikipedia: Gertraud Klemm

 

Helmuth Schönauer, 29-08-2019

Bibliographie

AutorIn

Gertraud Klemm

Buchtitel

Hippocampus

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2019

Verlag

Kremayr & Scheriau Verlag

Seitenzahl

379

Preis in EUR

22,90

ISBN

978-3-218-01177-8

Kurzbiographie AutorIn

Gertraud Klemm, geb. 1971 in Wien, lebt in Wien.