Masha Gessen, Die Zukunft ist Geschichte

masha gessen, die zukunft ist geschichteNicht umsonst hat es in der Lesedidaktik lange das Diktum gegeben: Wenn du ein anspruchsvoller Leser sein willst, musst du dich an russischen Romanen schulen! Wer nämlich durch die Slalomstangen eines üppigen Personalstandes halbwegs durch den Roman hindurch finden will, braucht auf jeden Fall Geduld und Erinnerungsvermögen, damit er eine Figur auch dann nicht verliert, wenn sie bloß einmal kurz vorkommt.

„Die Zukunft ist Geschichte“ ist zwar ein wissenschaftlich gut unterlegtes Geschichtswerk, ist aber generell als Roman ausgelegt. So erklärt die Autorin umfangreich das Wesen der russischen Namen. Sie sind je nach Alter, sowie Grad der Intimität und öffentlichen Reputation einzusetzen. Ein interessanter Mensch bringt es im russischen Literatur- und Alltagsgebrauch auf gut ein Dutzend Varianten seines Namens.

Der Roman arbeitet mit solchen Viel-Namen, die alle zusammengehalten werden vom Geburtsjahr. 1985 ist das Nuller Jahr für die Protagonisten der aktuellen Geschichtsschreibung. Insgesamt werden vier Haupthelden in ihrem Durchlauf durch die Geschichte gezeigt, dazu kommen noch diverse Thesen-Lieferanten aus der Geschichtsschreibung, Psychologie und rechtsnationalen Staatsphilosophie.

Auch die Schauplätze sind exemplarisch über das Land verteilt, neben Moskau und St. Petersburg spielen die alte Forscherstadt Gorki, die Psychologenstadt Perm und Kiew eine Rolle. Über Kiew heißt es, obwohl hier alle russisch sprechen ticken sie ganz anders.

Stoff der Geschichte ist oft die Rückblende auf die Sowjetunion, die sich noch immer kaum beschreiben lässt, weil das entsprechende neutrale Beschreibungswerkzeug fehlt. In einer knappen Analyse heißt es, dass zwar die ehemaligen Satellitenstaaten der Sowjetunion die Geheimarchive öffnen konnten, weil ja immer noch das Urgeheimnis in Moskau geblieben ist. In Moskau selbst konnten diese Geheimarchive nicht geöffnet werden, weil es ja von Geheimnisträgern rundum geschützt war.

So erklärt sich auch der Zerfall der Sowjetunion, der keine aktive Revolution voraussetzte, sondern wie ermüdetes Material einfach zerfallen ist.

Die Geschichtsträger mit dem Geburtsjahr 1985 erleben das alte Staatswesen aus Erzählungen, Gerüchten und Trauerreden. Die neuen Machthaber sind oligarchisch organisiert und definieren sich wie ehemals Landschaftsbesitzer als Rohstoffbesitzer. Der sogenannte kleine Mann wird nach wie vor als Homo sowjeticus angepriesen, der in der Hauptsache als Mythos besteht. Dieser Menschentyp lässt sich erst erkennen, wenn man ihn von außen betrachtet. Die Protagonisten studieren also fallweise im Ausland, um das Inland zu begreifen. Dennoch bleibt ein kleines Gedicht die beste Zusammenfassung der Sowjetunion.

Weit ist mein Heimatland. / Es hat viele Wälder, Felder und Flüsse. / Ich kenne kein anderes Land / Wo der Mensch so frei atmet. (84)

Eine Faustregel zieht sich durch die Analysen. Mit den Methoden des Westens oder Kapitalismus lässt sich Russland nicht beschreiben. So versagt auch jegliche Psychologie oder Staatsphilosophie, wenn sie in Russland angewendet werden soll. Selbst Koryphäen aus Harvard scheitern mit ihren Wissenschaften, wenn sie auf die Realität in Moskau treffen.

Die jüngere Zeitgeschichte ist in sechs Abschnitte untergliedert, die handfest auf eine innere Logik der Geschehnisse hinweisen. „Born in the USSR | Revolution | Auflösung | Auferstehung | Protest | Zerschlagung.“

Ein Unterkapitel trägt den vielsagenden Titel, Die Zukunft ist Geschichte. Von einer neutralen Auslegung ausgehend, dass auch die beste Zukunft einmal in den Geschichtsbüchern endet, steigt dann doch pessimistischer Rauch auf mit dem Unterton, Die Zukunft kannst du vergessen, erwarte dir nichts davon.

Im alten Geschichtsstreit, ob der Staat den Menschen formt oder der Mensch den Staat, scheint der Mensch zu obsiegen, der sein Programm durchzieht, ohne dass ihn die Wissenschaft steuern könnte. So kann man trefflich streiten, ob es zwischen Stalinismus und Nationalismus Unterschiede gibt, letztlich ist alles eine Sache des Wordings. Und auch das gegenwärtige Russland ist vor allem danach bemüht, nach dem Desaster durch den Zerfall der Sowjetunion wenigstens mit dem Vokabular wieder in den alten Zustand zu kommen. So lässt sich vielleicht auch der Titel verstehen, die Zukunft liegt in einer restaurierten Geschichte.

Da so gut wie alle Themen, die auf einer Universität abgehandelt werden, in diesem Geschichtsbuch zur Sprache kommen, ist man als Leser geneigt, wie in einem großen Roman darin zu versinken. Und auch wenn Ästhetik nie ein Element der Geschichtsschreibung sein soll, kann man als Roman-Leser sagen: Die Geschichte Russlands ist ausgesprochen schön, weil sie in der Entfernung nicht weh tut.

Masha Gessen, Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor
Berlin: Suhrkamp Verlag 2018, 639 Seiten, 26,80 €, ISBN 978-3-518-42842-9

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Masha Gessen, Die Zukunft ist Geschichte
Wikipedia: Masha Gessen

 

Helmuth Schönauer, 23-11-2018

Bibliographie

AutorIn

Masha Gessen

Buchtitel

Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2018

Verlag

Suhrkamp Verlag

Seitenzahl

639

Preis in EUR

26,80

ISBN

978-3-518-42842-9

Kurzbiographie AutorIn

Masha Gessen, geb. 1967 in Moskau, ist bereits 1981 bis 1994 in die USA migriert. Sie kehrte nach Russland zurück und lebt wegen der Homophobie-Gesetzgebung seit 2013 in New York.