Bernhard Hüttenegger, Auf dem Grund des Brunnens

bernhard hüttenegger, auf dem grund des bodensIn alten Märchenbildern ist die Welt wie eine Sanduhr aus Sternen aufgebaut. Wer in die Tiefe eines Brunnens blickt, sieht darin die Sterne des Firmaments gespiegelt, wer in den Himmel schaut, wird in die Tiefe hinabgezogen wie in einen Brunnen.

Bernhard Hüttenegger verwendet dieses Bild für den Titel des vierten Bandes seiner ausklingenden Autobiographie. Längst hat er sich zum Schreiben heikler Angelegenheiten, und das eigene Leben ist eine solche, die Figur des Albin Kienberger zugelegt, der in diesem Roman in die Provinz Rovigo in Venetien reist.

In den bisherigen Büchern der Laguna-Tatralogie ging es um die Mutter und die Sprache (I), das Kulturtreiben in der Provinzstadt Graz, die sich als literarischer Nabel der Welt ausruft (II), um das unruhige Pendeln zwischen Wien und Kärnten, das durch aufkeimendes Krankwerden nicht besser wird (III), und jetzt im Band IV geht es wohl um das Delta, das einen Zwischenzustand schlechthin darstellt.

Gleich zu Beginn ragt eine Tatze ins Meer, auf der sich der Held noch einmal in das diffuse Reich aus Ufer, Sand, Morast und Wasser wagt. Er hat ein Zimmer in einer Pension gebucht, aber wegen seines Alters hat man die Buchung in eine Reservierung für das Abendessen umgedeutet, man traut ihm nicht mehr zu, dass er wie ein Tourist herumreist. Dabei wollte er seine Abschlussreise noch wie in Jugendtagen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln absolvieren, es wird aber ein gebrechlicher Trip mit seinem alten Auto.

Als er sich am Touristenstreifen umsieht, fühlt er sich wie ein Schauspieler, der einen Touristen darstellen soll, der Sinn seiner Rolle ist ihm abhanden gekommen. Ein Tiroler Radler-Ehepaar gibt ihm dann noch den Rest, als es alles in eine Reisebürosprache übersetzen will, so wie man es zu Hause in Tirol macht, wo jeder Ausdruck ins Touristische übersetzt ist.

Dabei zerfällt dem Helden gerade die Sprache, ein Kassazettel löst sich in ein konkretes Gedicht auf, wenn die einzelnen Positionen lose mit einander korrespondieren. Ähnliches geschieht mit den Happen auf der Speisekarte, aus denen sich kein sinnzusammenhängendes Menü gestalten lässt.

Auch der Held scheint sich aufzulösen, während er darüber brütet, ob er nicht schon öfter mit seiner Lebensgefährtin Mia hier gewesen ist. Aber was hat sie gemacht, wenn sie dabei war, und wo ist sie jetzt? Unbemerkt hat er die Rolle seiner Nachdenkfigur Albin Kienberger übernommen, der manchmal weiterhilft, wenn es beim Denken hinein in die Sackgasse oder in die „pure Existenz“ geht.

Wenn er die Gedanken unbeobachtet lässt, kommen wieder diese entscheidenden Stellen im Leben hervor, der Tod der Mutter, der ihn fassungslos zurückgelassen hat. Mit der Fügung „Ich will nicht dumm sterben“ (59) hat er sich das Nachdenken verordnet, doch dann ist ihm der Körper weggebrochen, er musste intubiert werden und hat Monate in einem Dämmerzustand verbracht, einem Delta nicht unähnlich. Dabei gab es handfesten Boden unter den Füßen oder im Bett, in einer Seeklinik der Karnischen Alpen.

Die Schlüsselwörter sind jederzeit abrufbar: Spital, Schlucken, Intubieren, Rehab (!) Luftröhre. Vor allem der Ausdruck „Rehab“ ist bemerkenswert, steckt darin doch der Rest eines Besitzanspruches.

Jetzt ist wohl Mia in einem Pflegeheim, er ist mit ihr verbunden durch ein Gefühl unbarmherziger Nichtigkeit. (84)

Der Schluss des Bandes und wohl auch der Tetralogie ist als Schrift „Aus dem Nachlass“ (87) angelegt. In einer dubiosen Erzählhaltung geht der Held der Frage nach, was mache ich hier? Er sucht seine Mia, von der er nur weiß, dass sie auf Zimmer 126 liegt, aber er kommt nie zu ihr durch. Stets verhindert das Pflegepersonal den Übertritt von der Männerabteilung in den Frauentrakt. Er selbst scheint auch in Behandlung zu sein, er hat sich nämlich „in die Schwarze Glan vergafft“. Dieses Hineinstarren in bodenloses Wasser bringt aber keine rettenden Sterne hervor, an denen man sich orientieren könnte.

Jemand aus der Ärzteschaft lässt den Ausdruck fallen „irreversibel“ (114), ist Mia gemeint? Oder geht es wieder um ihn selbst, wenn er nicht mehr zurückfindet in sein Zimmer. Vermutlich würde ihn Mia gar nicht mehr erkennen, wenn er durchkäme.

Wie ein strahlender Held, der seine Mission mit einem Ruck beginnt, fährt es jetzt durch ihn, den Nachlass und den Roman: „Ins Delta!“

Bernhard Hütteneggers Reise durch sich selbst ermöglicht einen seltsamen Dialog mit den Helden, man kann mit ihnen reden, aber sie lassen nicht mit sich reden. So kommt man als Leser in den Genuss jenes Zwielichts, das vor allem im Delta herrscht zwischen den Fluten.


Bernhard Hüttenegger, Auf dem Grund des Brunnens. Roman
Graz: Edition Keiper 2021, 114 Seiten, 18,00 €, ISBN 978-3-903322-26-4

 

Weiterführende Links:
Edition Keiper: Bernhard Hüttenegger, Auf dem Grund des Brunnens
Wikipedia: Bernhard Hüttenegger

 

Helmuth Schönauer, 03-06-2021

Bibliographie

AutorIn

Bernhard Hüttenegger

Buchtitel

Auf dem Grund des Brunnens

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Edition Keiper

Seitenzahl

114

Preis in EUR

18,00

ISBN

978-3-903322-26-4

Kurzbiographie AutorIn

Bernhard Hüttenegger, geb. 1948 in Rottenmann, lebt in Wien und Kärnten.