Sepp Mall, Wundränder

Gibt es eine ideale Zeit, um Zeitgeschichte zu erzählen? - Ideal ist vermutlich jene Distanz, die zwischen Kindheit und reifem Alter liegt, eine Distanz, mit der Adalbert Stifter meist seine Figuren abgeklärt und erkenntnisreich hat auftreten lassen.

Sepp Malls Roman ?spielt? in den sechziger Jahren in Südtirol, Höhepunkt der internationalen Zeit ist das legendäre Fußballmatch zwischen England und Deutschland 1966 mit diesem komischen Tor, von dem man bis heute nicht weiß, ob es eines gewesen ist oder nicht.

Dieses Tor ist ein fixer Bestandteil der Zeitgeschichte, anderseits wird seine Existenz bis heute anerkannt oder abgestritten, ein lebenslänglicher Lattenpendler eben. Die historischen Elemente, die im Roman Wundränder vorkommen, gleichen diesem Fußballereignis, irgendwie sind die Geschehnisse alle fix in der Geschichte verankert, aber ihre Gültigkeit wird oft heute noch bloß vage gedeutet, so oder so.

Im Roman werden raffiniert Täter und Opfer zusammengeführt, es geht um die Südtiroler Bumser-Geschichten in ihren Ausläufern. Der eine Bub, Paul, sieht seinen Vater verschwinden, angeblich hat er was Politisches angestellt. Als dieser vom Gefängnis zurückkommt, ist er verstört und entwurzelt, schließlich stürzt er sich in einer anonymen Vorortsiedlung vom Dach.

Der zweite Bub, Alex, ist sprachverstört, für ihn spricht, denkt und empfindet seine Schwester. Alex wird schließlich vor einem Denkmal in die Luft gesprengt, die genaueren Umstände bleiben unklar, so oft man auch die Zeitlupe der Vermutungen ablaufen läßt.

Die große Geschichte Südtirols bekommt plötzlich Konturen, aber je tödlicher die Auswirkungen sind, um so verschrobener, sprachloser, ungelenker wird der Kommentar der Hinterbliebenen und Protagonisten. Nicht von ungefähr bevölkern Sprachgestörte, Gedemütigte, Irregeleitete, Untergetauchte und Anonyme diesen Roman.

So gegen Mitte des Romans schnitzt der wortlose Alex seine Botschaften in die Baumrinden, die ?Wundränder? in den Rinden bleiben noch sichtbar, da ist alles
schon geschehen.

?Unseren Schulweg von früher, wo Alex? Bäume standen am Wegrand. Die Eschen, die Kindheitsbäume, deren Rinde Alex? Messer bearbeitet hatte auf dem Heimweg. Wieder und immer wieder. Als hätten die Wörter, die quer in seiner Kehle steckten, ihren Weg gesucht über seine Hand, die das Messer hielt.? (80)

Sepp Mall erzählt kunstvoll einfach verstrickt. Nicht nur die Dramaturgie läßt einen als Leser immer wieder staunen, wie da mit der Logik einer Katastrophe zwei Züge voller Biographien aufeinander zurasen, auch die einzelnen Bilder sind voller Verstrickungen, aus denen sich langsam vielschichtige Bildabzüge herauswickeln lassen.

?Der Tag, an dem Pauls Vater zurückkam, hatte eine wässrige blaue Farbe, schon vom Aufwachen an.? (110) Das ist es, was von einer Kindheitserinnerung letztlich bleibt, eine wässrige blaue Farbe. Und dahinter liegt die Beschreibung einer ganzen Epoche, hinter diesen gefilterten Kindheitserinnerungen stehen sie plötzlich wasserklar da, jene Jahre in den Sechzigern des vorigen Jahrhunderts.

Die Städte wurden mit stacheligen italienischen Schlafstellen umbaut, hoffnungsvoll blinzelnde Bauernkids verließen die Bauernhöfe und zogen in die Großstadt, internationaler Fußball machte die italienischen Fußballstars als Leitbilder tauglich, die patriotischen Sätze von der deutschen Heimat gingen in Sprachlosigkeit unter, Konsumgüter krabbelten auch in soziale Randgruppen vor, die erste Liebe war wie zu allen Zeiten aufregend, italienisch und deutsch.

Es ist Sepp Mall hoch anzurechnen, daß er diesen Stoff aufgegriffen hat, obwohl es noch keine Richtlinien gibt, wie man diesen Stoff staatstragend erzählen könnte. Aber die Erzählmethode Sepp Malls ist gut: aufrichtig, hartnäckig, gelassen, stiftend und Stifterisch im besten Sinne.

Sepp Mall, Wundränder. Roman.
Innsbruck: Haymon 2004. 176 Seiten. EUR 17,90. ISBN 3-85218-458-4.

Helmuth Schönauer 16-08-2004