Thomas Arzt, Die Gegenstimme

thomas arzt, die gegenstimmeLesen hat im gesellschaftlichen Diskurs einen ähnlich positiv besetzten Stellenwert wie Spazierengehen. Dennoch muss dies ständig beworben werden, weil es offensichtlich nicht selbstverständlich ist.

Auf den öffentlichen Sendern wird daher bei passender Witterung darauf hingewiesen, dass es am Nachmittag Zeit für einen Spaziergang ist, und die kulturellen Einrichtungen einer Kommune schwärmen mindestens einmal im Jahr davon, dass es jetzt Zeit zum Lesen wäre.

Einen bewährt frischen Leseimpuls setzt dabei die Aktion „Innsbruck liest“, wobei für ungefähr jeden zehnten Einwohnenden der Stadt ein Gratisbuch zur Verfügung steht, welches in sozialen Einrichtungen verteilt wird mit dem Hinweis, dass es in der Stadtbibliothek Nachschub ohne Ende gibt.

Ein Buch, das es schafft, für die Gratis-Aktion ausgewählt zu werden, wird mit anderen Leseaugen begutachtet als ein solches, das vielleicht gar nicht bemerkt wird und mit einem artigen Knicks im Literatur-Archiv verschwindet.

Die Literatur ist seit jeher Gefangene eines Paradoxons: Je mehr sie inhaltlich von Freiheit, Widerstand und Gegenstimme trommelt, umso undurchsichtiger sind die Jurys, welche die miesen Tugenden „flach – angepasst – cremig – mainstreamig“ pflegen. Längst haben die Kultur-Anschaffer erkannt, dass die Jury das Schräubchen ist, an dem man drehen muss, will man etwas Harmloses als Ergebnis zelebrieren.

Thomas Arzt wird mit seinem Roman „Gegenstimme“ für heuer den Kriterien eines Stadt-Lesebuches gerecht. Das Buch ist leicht verständlich, hat eine durchgehende Handlung, einen realistischen Hintersinn und spielt vor allem im Jahr 1938, was ganze Germanisten-Jahrgänge in den kollektiven Orgasmus treibt.

Und das Lies-Tüpfelchen besteht schließlich darin, dass der Roman phasenweise in Innsbruck spielt.

Den Roman könnte man als „Ausmalung“ bezeichnen. Eine historische Grundsituation, die sogenannte Abstimmung 1938, womit der Anschluss Österreichs an das Dritte Reich abgenickt werden soll, wird anhand einer unheimlichen Gegenstimme ausgemalt, erklärt und ad acta gelegt.

Held ist der Oberösterreicher Karl Bleimfelder, er studiert seit 1936 in Innsbruck und merkt, wie sich allmählich das Land verändert. Zuerst ist für den Klosterschüler alles neu und aufregend, selbst eine Zwergstadt wie Innsbruck vermag universellen Touch zu verströmen. Dann übernimmt freilich das Rüpelhaft-Braune das Kommando, immer öfter eskalieren Lehrveranstaltungen zu Kundgebungen und Bierzusammenkünfte arten in Schlägereien aus.

Ein Foto, das er nach Hause schickt, löst Betroffenheit aus, das Gesicht, wie er auf einer Bettkante sitzt, zeigt Verlorenheit und Hilflosigkeit.

Für einen Tag fährt Karl im April 1938 artig heim, um an der Volksabstimmung teilzunehmen. In einem Anfall von Trance, Ratlosigkeit und Übermut weigert er sich, die Stimme öffentlich abzugeben. In der Wahlzelle brunzt er sich an, was großen Tumult auslöst, weil man vermutet, er habe auf den Führer geschifft.

Jetzt wird er gejagt, die Meute der neuen Gesinnung ist hinter ihm her, und er flüchtet in seinen Erinnerungswald der Kindheit. Die Dorfbewohner sind wohl übergeschnappt, seit er in die Stadt gezogen ist. Er kann sich ihr primitives Reagieren nicht erklären. Besonders enttäuscht ist er vom Abt seiner Klosterschule, der offensichtlich schon das Handtuch geworfen hat.

Inzwischen werden die Stimmen ausgezählt und tatsächlich wird eine Gegenstimme gefunden, die man wohl ins Protokoll setzen muss. Oder vielleicht auch nicht, die Zeiten haben sich ja geändert.

Die Jagd erreicht ihren Höhepunkt in einem Gewitter, – Brandstiftung, Aufruhr und Blitzschlag gehen ineinander über. Der Gendarm versucht vergebens, Karl im Tumult zu finden und zu retten.

Am nächsten Tag freilich steht Karl mit seinem Wahlgeheimnis in der Dunkelheit am Bahnsteig und wartet auf den Arbeiterzug nach Linz. Ein Tag hat genügt, um ihn aus der Bahn zu werfen. Innsbruck mit seiner Universität ist schuld, dass er zum Außenseiter geworden ist.

Die Pendlerin Cilli verabschiedet ihn rustikal und bodenständig: „Geh, scheiß dich nicht an, bist doch ein Mann. Dann kämpf’ wie ein Mann! Oder würdest du’s Land verlassen, nur wegen einer neuen Fahne, die da wachelt?“ (191

„Ausmalung“ hat hier einen doppelten Sinn. Der Autor malt sich eine Geschichtslage rund um das Jahr 1938 zusammen, darin eingefügt wird die Farce-Wahl mit dem Motiv der Gegenstimme, so wie man in Kinderzeichnungen vorgegebene Linien mit dem Buntstift nachfährt.

Der historische Erkenntnisgewinn ist nicht gerade aufregend. Aber die Sprache ist ungewöhnlich und bemerkenswert. In einem groben Inneren Monolog läuft die Zeitgeschichte durch das arme Hirn des Delinquenten, der kaum imstande ist, eigene Gedanken zu entwickeln. Ein politischer Shitstorm rennt durch seinen Kopf und hinterlässt Sätze, die Anklage, Befehl und Hinrichtung sein können.

So also kann es einer sensiblen Seele zu Hause ergehen, wenn sie in Innsbruck in das siedend heiße Wasser des Studiums geworfen wird.

Natürlich hat die „Gegenstimme“ eine starke Moral. Widerstand lohnt sich am Papier, aber gegen den Sound der Einheitspartei ist man machtlos. Und Studieren in Innsbruck ist eine gute Sache! Ja, und lesen auch.

Vielleicht nimmt sich die Jury im nächsten Jahr einen Roman vor, der tatsächlich als Gegenstimme im Einheitssound des Literaturmarkts liegt und nicht bloß beschreibt, wie man eine solche als Fiktion zelebriert.

Thomas Arzt, Die Gegenstimme. Roman (= Innsbruck liest 2022)
Salzburg: Residenz Verlag 2021, 192 Seiten, 20,00 €, ISBN 978-3-7017-1736-1

 

Weiterführende Links
Residenz Verlag: Thomas Arzt, Die Gegenstimme
Wikipedia: Thomas Arzt

 

Helmuth Schönauer, 01-08-2022

Bibliographie

AutorIn

Thomas Arzt

Buchtitel

Die Gegenstimme

Erscheinungsort

Salzburg

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Residenz Verlag

Reihe

Innsbruck liest 2022

Seitenzahl

192

Preis in EUR

20,00

ISBN

978-3-7017-1736-1

Kurzbiographie AutorIn

Thomas Arzt, geb. 1983 in Schlierbach, lebt in Wien.