Bojana Meandžija, Lauf! Warte nicht auf mich...

bojana meandzija_lauf! warte nicht auf michBerichte aus Kriegsgebieten sind mittlerweile wieder fester Bestandteil unserer Nachrichtensendungen. Während die Korrespondenten in ihren Kugelwesten den neuesten Status durchgeben, sind wir Zuseher oft noch mit Kriegen aus dem vorigen Jahrhundert beschäftigt. So ein Krieg dauert mindestens drei Generationen, bis er sich halbwegs im Unterbewusstsein der Opfer beruhigt hat.

Bojana Meandžija ist noch immer mit dem Aufarbeiten des Krieges rund um Karlovac in den Jahren 1991-1995 beschäftigt. Als Motto wird ein Gefangener zitiert, der zittrig eine Rasierklinge zeigt, sie habe ihm das Leben gerettet. Er hätte sich nämlich jeden Tag rasiert, statt sich umzubringen. Und jemand anderer sagt: „Ich räche mich am Bösen, indem ich es verschweige.“

Diese Überlebenssätze sind dem Bericht der jugendlichen Erzählerin vorangestellt. Sie hat im Keller ums Überleben gekämpft, während andere Jugendliche um diese Zeit mit Pusteln im Gesicht kämpften. Das „Jugend-Buch“ ist deshalb ernst und tiefgehend ausgefallen, da ist kein Platz für den leichten Schnickschnack, der oft die Orte des Konsums durchweht.

Die Überlebensgeschichte manifestiert sich auch im zähen Vorgang, den es braucht, um so ein Buch aus dem Kriegsschutt an die Oberfläche eines Lesepultes zu bringen. Während der Kriegsereignisse „feiert“ 1991 die Erzählerin ihren dreizehnten Geburtstag. Auf diesen atemlosen Notizen aus dem Keller der Wohnanlage fußt ein Erinnerungsbuch, das 2009 als Privatdruck von der Bücherei Karlovac herausgegeben wird, ehe es dann 2016 in einem Verlag erscheint und jetzt im Zuge internationaler Aufmerksamkeit als deutsche Übersetzung zugänglich ist.

Die Bücherei als Friedenssichernde Maßnahme und Bewältigungsstelle von psychischen Kriegsschäden, das ist wohl die eigentliche Erfolgsgeschichte eines Buches, womit sich das öffentliche Lesen als notwendige Einrichtung für den Aufbau einer Gesellschaft erweist.

Die autobiographische „Abenteuergeschichte“ beginnt wie alle Horrorgeschichten mit der Schilderung eines friedlichen Idylls vor dem Eintritt der Katastrophe. Großmutter lebt in einem kleinen Paradies mit Nussbaum in der Vorstadt, die Kinder verbringen tolle Ferien, und als in der Nacht immer ein Mann mit Gewehr die Siedlung durchstreift, denkt sich die Erzählerin, dass dies zum Aufputz der Ferien gehört.

Aber dann ändert sich vor allem die Gemütsfarbe, alle tragen plötzlich Grau im Gesicht, auf den Straßen ist Stacheldraht ausgerollt und an allen Ecken gibt es Checkpoints für die Kontrolle der Wageninsassen und Kofferräume. Großmutter will beim Nussbaum bleiben, während die anderen Fahren zurück in die Stadt fahren, welche allmählich von Explosionen eingedeckt wird.

Das Hochhaus fächert sich in zwei Lebensbereiche auf, oben geht man aufs Klo und wäscht sich, so lange Wasser da ist, unten im Keller verbringt man die Zeit, um das Überleben auszuhocken. Areale, in denen früher nur Drogenleute und Alkoholiker verkehrt sind, werden zu Schutzzonen ausgebaut, darin ducken sich mehr Haustiere als Menschen.

In letzter Zeit habe ich das Leben betreten und bin überall um mich herum auf beklagenswerte, undurchlässige, schwarze und graue Dinge gestoßen. (58)

Man versucht, Großmutter zu evakuieren, aber über die Brücke ist kein Verkehr mehr möglich. Nach Stunden gelingt es, sie als Fußgängerin über die Frontlinie zu lotsen, das Bild der einsamen Frau zwischen den militärischen Brückenköpfen geht durch die Presse.

Wir leben alle mit halber Kraft. (95)

Die Erzählerin feiert Geburtstag, Weihnachten und Silvester in besinnungsloser Ausgelassenheit. Die Kids nämlich tanzen um sich selbst und versuchen sich irgendwie in Trance zu beamen.

In einer Kampfpause bringt man Onkel und Tante über die slowenische Grenze, dann geht es wieder zurück nach Kroatien, wobei eine innere Stimme das später so gebräuchliche Navi antizipiert: Statt Ziel erreicht, müsste man sagen, Ende erreicht. (157)

Als sich alle wie ein Vogel im Käfig eingerichtet haben, ist auch an kleinere Reparaturen an sich selbst und der Wohnung zu denken, die Heldin unterzieht sich einer Zahnoperation und fürchtet sich dabei mehr als vor den Explosionen neben dem Haus. Der Waffenstillstand ist bereits ausgerufen, da gibt es noch einem Überraschungsangriff, das Treppenhaus erzittert und Vater wirft die Tochter mehr in die Tiefe, als dass er sie trägt. „Lauft!!! Wartet nicht auf uns! - schreit er.“ (270) In diesem verzweifelten Ruf ist als Todesangst der letzte Wille der Erwachsenen enthalten, wenigstens die Kids sollen in die Zukunft finden, indem sie blind zu rennen beginnen.

Die Erzählung endet am Ort der einstigen Idylle. Garten, Großmutter und Nussbaum sind endlos grau geworden, das einzig Bunte ist ein Schild, das vor Minen warnt.

Literatur muss an manchen Tagen damit leben, dass sie wirkungslos ist. Ihre Kraft liegt in der Zeitverschiebung, die mit ihr einhergeht. In Kriegszeiten erinnert sie daran, wie Frieden ist, im Frieden gemahnt sie, den Krieg nicht zu vergessen.

Während wir in Europa dieses Friedensbuch aus dem vorigen Jahrhundert lesen, wird in der Ukraine schon der nächste Krieg ausgerufen. Wieder werden Kinder in den Kellern sitzen und aufschreiben, wie sie später Frieden suchen werden.

Bojana Meandžija, Lauf! Warte nicht auf mich... Illustriert von Matija Pisačić, a. d. Kroat. von Gero Fischer [Orig. Titel: Trci! Ne cekaj me, Zagreb 2016]
Klagenfurt: Wieser Verlag 2021, 306 Seiten, 21,00 €, ISBN 978-3-99029-490-1

 

Weiterführender Link
Wieser Verlag: Bojana Meandžija, Lauf! Warte nicht auf mich

 

Helmuth Schönauer, 21-02-2022

Bibliographie

AutorIn

Bojana Meandžija

Buchtitel

Lauf! Warte nicht auf mich...

Originaltitel

Trci! Ne cekaj me

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Wieser Verlag

Illustration

Matija Pisači

Übersetzung

Gero Fischer

Seitenzahl

306

Preis in EUR

21,00

ISBN

978-3-99029-490-1

Kurzbiographie AutorIn

Bojana Meandžija, geb. 1978 in Karlovac, lebt in Karlovac.

Matija Pisačić, geb. 1975 in Zagreb, lebt in Zagreb.