Franz Reisecker, Musik und andere Geräusche

franz reisecker, musik und andere geräuscheMehr als Elternhaus oder Schule ist es oft die Popmusik, die als Erziehungsmeisterin das Ruder beim Heranreifen der jeweiligen Jugend übernimmt. Der sogenannte Erziehungsroman des bürgerlichen Realismus ist also zumindest im Österreich des späten 20sten Jahrhunderts dem Pop-Roman gewichen.

Franz Reisecker erzählt die Geschichte des Walter Gump, der vom flachen Land aus immer weiter in das Epizentrum des Zeitgeists vorrückt und Band-Musiker wird, ehe er sich dann abgeklärt in das Schicksal der Unauffälligkeit begibt.

Der Held ist über weite Teile mit Schicksalszügen des Autors ausgestattet, dieser ist 1963 geboren und gilt unverschuldet als Vertreter der Boomer-Generation. Diese beklagt ja mittlerweile in ihren Reflexionen, dass sie alle nichts erlebt haben, weil sie entweder zu jung oder zu alt für eine Kunstströmung waren. Als Boomer bist du selbst in der Pension wertlos, klagt in einem Pop-Roman einmal ein Held.

Wie in einem großen Epochenroman wird der Versuch, etwas Großes zu leisten, in sechs Stationen dargestellt, aber schon nach dem ersten Kapitel ahnt man, dass sich das vielleicht nicht mehr in dieser Welt ausgehen wird. „Hingestellt“ wird zu einem brutalen Begriff, wenn damit das Leben eines Kindes gemeint ist. In einer Siedlung in Oberösterreich wird Klein-Walter einfach aufgestellt und hingestellt, wie man im Volksmund mit der Fügung „ein Kind aufstellen“ so sagt. Nicht einmal bei der Namensgebung denken die Eltern nach und nennen das Kind nach dem Erzeuger. Aber selbst das ist keine Garantie, dass die Dinge selbstbestimmt sind, der Bruder Max stellt sich bei seiner Volljährigkeit als Kuckuckskind heraus.

Hausaufstocken, Arbeiten in der nahen Schifabrik, Kettenrauchen, Fernsehschauen, Kindermachen, ein dritter Bub kommt ins Haus. – Der Heranwachsende hat nur einen Wunsch, er möchte in einem künftigen Leben als Tier auf die Welt kommen, egal, wenn er am Ende geschlachtet wird.

Vor die Wahl gestellt, Dachdecker oder Uhrmacher zu werden, nimmt er den Uhrmacherposten, weil dieser unter Dach ist. Zum Ausgleich fällt die Wahl zwischen Punk hören oder Bücher lesen, auf den Punk, weil dieser meist im Freien stattfindet.

Schon während der Lehre tut sich die Welt der Musik auf, und hier ist das Linzer Brucknerhaus erstaunlich offen für neue Töne und fasziniert Jugendliche, sodass der Lehrling sowohl seine Prüfung nach außen hin als auch die des guten Musikgeschmacks nach innen hin besteht.

Die Eltern sind inzwischen geschieden, leben aber mangels Alternativen noch weiter zusammen, die kleine Uhrmanufaktur in Linz erweist sich als bestens überwachte Arbeitsstelle, an der es keine Zukunft für einen musischen Freigeist geben wird. Also auf nach Wien, das sich ohne Navi damals noch wie ein urbanes Monster erobern lässt!

Ein amorphes Genie in der Großstadt muss letztlich auf drei Menschwerdungs-Kanälen erfolgreich sein, um zu einer Persönlichkeit heranzureifen.

Der erste Kanal ist der Sex. Wenn es schon beim Alten nicht klappt, der sich in seiner Not eine neue Frau aus Tirol zulegen muss, warum soll es dann beim Jungen klappen? Beim ersten Treffen mit einer Sonja Gruber stimmt zwar noch das Erkennungszeichen, eine Schallplatte, aber gleichzeitig wird der Pimmel unscharf, als ihm diese eröffnet, dass sie auf dem Weg nach San Francisco sei, um etwas auf Aupair zu machen. Die nächste erotische Begegnung endet mit einem Eklat, als Walter als malender Musiker vorgestellt wird und die nächstbeste Frau am Brustnippel zwickt, weil er diesen für ein Musikinstrument hält.

Ein Urlaub auf einer Lastminute-Insel führt durch Sexverweigerung der Partnerin zu einem überdimensionalen Relax im Alkohol. Und die aktuell erzählte letzte Begegnung findet ein glückliches Ende in Form einer spontan gebuchten Vaterschaft. Die Frau will einen Samenspender und Walter ist gerade frei, sodass er einiges, was er bisher nur aus Vorabendserien kennt, selbst erleben darf. Schwangerschaftsturnen, Geburt und schließlich dieses elegische Versprechen, das wie ein Popsong aus dem Roman hinausdröhnt: „Ich werde mich als Vater deklarieren und euch so wenig wie möglich stören. Ihr drei seid die Planeten und ich bin der Mond, der ab und zu vorbeischaut. Eine gewisse Distanz ist mir nur recht.“ (148)

Während der Sex ein Leben lang betreut werden muss, können die beiden anderen Menschwerdungs-Kanäle so weit adaptiert werden, dass man sie halbwegs kontrolliert und nicht von ihnen aufgefressen wird.

Der zweite Kanal für ein Genie ist die Psyche, die vor allem nach einer uninteressanten Kindheit in der Großstadt leicht kollabiert. Walter spült zuerst das antidepressive Programm hinunter, ehe er sich einer Psychologin anvertraut, die ihm aus den Panikattacken heraushilft. Eine gute Methode besteht beispielsweise darin, die Fahrt zurück in die Kindheit geographisch zu inszenieren. Tatsächlich schafft es Walter von Wien aus wieder zurückzufahren bis ins winzige Kinderland, wo die Eltern ihre zerbrochene Ehe mit emotionalem Flickwerk abzudichten versuchen. Wer eine Fahrt zu seinen kaputten Eltern übersteht, übersteht auch die Panikattacken in sich.

Der dritte Kanal eines lernwilligen Genies ist die Kunst selbst, in diesem Falle die Wiener Musikszene, die vor allem durch Regeln der Subkultur und nicht abgesprochenen Regularien besteht. Letztlich braucht niemand diese Musik, sie wird als störend empfunden, wie das Beispiel eines Kollegen zeigt, der plötzlich aus Lärmschutzgründen sein Klavier mit Glaswolle ausstopfen muss, was zu schweren Hautreizungen führt und seine Tastenfinger zum Schweigen bringt.

Vorläufiger Höhepunkt beim Spiel in einer Band, ist ein ORF-Trailer, für den alle ihre Persönlichkeit über Bord werfen müssen. Die Band selbst ermüdet an sich selbst, nach einem Auftritt in Landeck (von Wien aus der entlegenste Ort Österreichs) kommt es zum Krach, und Walter gebiert den schönen Satz, „this man is leaving the building!“

Der Roman endet zu einer Zeit, wo Österreich samt Schüssel sich an sein eigenes Ende regiert, der Held aber noch eine passable Zukunft vor sich hat. Spätestens am Romanende trennen sich die Wege des Autors und des Helden. Aus dem einen wird ein anerkannter, hoffentlich glücklicher Musiker, aus dem anderen ein Stück Mond, der ab und zu in seiner Kindheit vorbeischaut und hoffentlich sieht, dass alles gut geworden ist.

Eine wundersam wahre Geschichte, die nach einer Injektion durch den Kürbis-Verlag fortan wie purer Pop in den Adern des Lesers kreist.

Franz Reisecker, Musik und andere Geräusche. (= Pop! Goes The Pumpkin No 7)
Wies: edition kürbis 2022, 152 Seiten, 20,00 €, ISBN 978-3-900965-59-4

 

Weiterführende Links:
Edition Kürbis: Franz Reisecker, Musik und andere Geräusche
Homepage: Franz Reisecker

 

Helmuth Schönauer, 12-02-2022

Bibliographie

AutorIn

Franz Reisecker

Buchtitel

Musik und andere Geräusch

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Edition Kürbis

Reihe

Pop! Goes The Pumpkin No 7

Seitenzahl

152

Preis in EUR

20,00

ISBN

978-3-900965-59-4

Kurzbiographie AutorIn

Franz Reisecker, geb. 1963 in OÖ, lebt in Wien.