Jörg Zemmler, leihworte
Ein Buch, das irgendwie mit der Hand geschrieben ist, erregt sofort Aufmerksamkeit.
Jörg Zemmler hat die Schnauze voll von Times und Arial und schreibt sich nicht nur die Geschichten selber sondern auch die Buchstaben.
Tatsächlich spielen die Texte in einer Grauzone der Gattungen. Ziemlich fett sticht jedenfalls die Paginierung hervor, damit man auf jeden Fall zitieren und die Ziffern als das GPS des Textes verwenden kann.
Fast durchgehend schwebt am oberen Teil etwas Luzides wie Vögel durch die Textgeographie, und wo Vögel sind, ist immer auch Lyrik, weshalb der obere Teil immer zu einem Gedicht ausgebaut ist. Im unteren Teil, dem erdig irdischen, wie es im Beipackszettel heißt, spielen die heftigen Geschichten, die als Fließtext ausgeführt sind. Wie ein permanenter Schöpfungsbericht ist die Erzählschleife in Bewegung gesetzt worden und dreht sich fortan mit all ihren Figuren der Unendlichkeit zu.
Höhepunkt ist die Geschichte von der Glocke, wo ein Bauer genug vom Glockenschlag hat und versucht, mit einem gezielten Stich die Glocke zu erstechen, aber das Messer ist zu stumpf und die Glocke läutet und läutet. Da kommt eine Bäuerin herbei und erzählt, dass sie schon einmal eine Liebschaft mit einem Glockenstecher gehabt hätte, aber es ist dann doch nichts daraus geworden, wie auch dieses Mal nichts daraus wird.
Nach der Methode ?Ein Hund kam in die Küche und stahl dem Koch ein Ei? gehen die Sequenzen in einander über, eines setzt sich aus dem andern fort und am Schluss ist letztlich nichts geschehen, außer dass alles ein paar Abenteuer später ist.
Jörg Zemmler erzählt im Anflug höchster Abenteuerlust, so werden selbst die trivialsten Begebenheiten zu einer ordentlichen Soapopera des Wahnsinns. Wenn die Erzählung stockt, startet jemand sofort das Ausweichprogramm, die Welt ist letztlich organisiert wie ein PC-Programm, das unununterbrochen upgedatet werden muss.
?Auf jeden Fall muss es Gulasch sein und kalt? (63), nach so einer Einlage ist es letztlich egal, wie die Story weitergeht. Während es am Textboden immer skurriler dem Ende zu geht, komprimieren sich am Erzählhimmel die Gedichte zu Listen und Excel-Dateien. ?Dank, wem Dank gebührt, geschüttelt und gerührt? heißt der letzte Satz, ehe es noch einen Bonus-Track in italienischer Sprache gibt. Ja, so ist die Welt, denkt man sich als Leser, das sind genau die Stories und Stimmungen, von denen wir letztlich umgeben sind.
Die handgeschriebenen ?leihworte? flitzen skurril dahin wie die Bleistiftprosa eines Robert Walser und die einzelnen Wortgruppierungen sind durchaus ermunternd. ?Die Männer. Die Frauen, oh sie kämpfen die Männer, immer und überall. Sie kämpfen sich durchs Leben. Alles ist schwer für sie und die anderen sind immer besser und selbst besser sind sie nie.? (6) ? Das ist Lesebalsam auf die sonst so von wirren Geschichten geschundenen Leseaugen.
Jörg Zemmler, leihworte, gedichtiges & un-.
Wien: edition ch 2004. 84 Seiten. EUR 11,-. ISBN 3-901015-26-4.
Helmuth Schönauer, 13-01-2005