Wolfgang Böhm, Zwischen Brüdern

wolfgang böhm, zwischen brüdernHat es einen Sinn, eine Geschichte zu erzählen, die vor hundert Jahren gespielt hat? – Ja, weil in der Literatur ja nicht nur die Geschichte von damals, sondern plus hundert Jahre danach als Geschichte erzählt werden.

Wolfgang Böhm entwirft anhand eines Brüderpaars eine kleine atmosphärische Kulturgeschichte aus dem Wien der Zwischenkriegszeit des vorigen Jahrhunderts. Der Ich-Erzähler Viktor und sein Bruder Hans sind seinerzeit von Olmütz aus in den Ersten Weltkrieg geschickt worden. Boden- und orientierungslos landen sie in den 1920er Jahren im derangierten Wien, das gerade als geköpftes Haupt eines ehemaligen Kaiserreichs in Geographie und Geschichte herumliegt.

Viktor ist Turn- und Geographielehrer und versucht, in einem Gymnasium Fuß zu fassen. Seine erste Tätigkeit besteht darin, die Geographiekarten zusammenzuschneiden auf die Größe des Österreichs der Ersten Republik. Sein Rezept für verworrene Zeiten spekuliert damit, unauffällig im Kollektiv die Zukunft zu meistern und die Lüste des eigenen Ichs geordnet und maßvoll abzuarbeiten.

Dem gegenüber steht die Philosophie des unruhigen Hans, der sich in der Meisterklasse des Universalkünstlers Josef Hofmann einschreibt und als Individuum den Alltag verschönern und meistern will.

Nach außen hin zeigen sich diese beiden Haltungen im „roten Wien“. Der erzählende Viktor ermuntert als Lehrer zu einer hellen Zukunft und verweist vor allem auf die Kommunalbauten, die als Gesamt-Grätzl das Leben der Inhabitants veredeln sollen.

Der Solo-Künstler Hans legt sein Genie in die einzelnen Gerätschaften wie Gürtelschnallen, Türklinken und Lampenschirme und glaubt durch Veredelung des bürgerlichen Designs eine schöne Kulisse für die Zukunft zu gestalten.

Und womit offensichtlich beide nicht gerechnet haben, ist der braune Weg, der als zynischer Hybrid aus beiden Denkrichtungen den Menschen selbst zu einem durchgestylten, vermassten Alltagsereignis macht.

In diesen großen Zeitgeist sind die Biographien hineingeflochten. Der eine hat nie Geld und verschwindet ständig, wenn es was zu entscheiden gilt, der andere ist brav bis aufs Blut und wird vom Schicksal dennoch nicht belohnt.

Im Gegenteil, als die Nazis im aufgelösten Österreich toben, kann Hans endlich eine ausgelaufene Ehe beenden, sich scheiden lassen und neu heiraten, während der brave Viktor seinen Sohn in der Ukraine verliert und sich vor Schmerz nicht mehr einkriegt.

Die Frauen sind in dieser Brüder-Geschichte naturgemäß Staffage. Wie es schon im Titel ausgedrückt ist, geht es um Reibereien zwischen Männern. Während es irgendwie logisch ist, dass der individuelle Künstler seinen Bedürfnissen ausschweifend nachgeht und es im Falle einer emanzipierten Gegen-Künstlerin zu einem One-Night-Stand kommt, muss der brave Lehrer feststellen, dass die Frau eigentlich als Teil des Mobiliars gedacht ist, das vom roten Konzept mit gestellt wird. Das sogenannte Rote äußert sich in Wien zwischendurch sehr biedermeierlich als Abziehbild des Bürgertums.

Das wechselvolle Magnetfeld zwischen den Brüdern blitzt mal in den Bars auf, dann wieder in Werkstätten, die vom Künstler zwischendurch gehalten werden. Zu einem schweren Konflikt kommt es, als Hans wieder einmal pleite ist und das Elternhaus in Olmütz verkaufen möchte.
In der Hauptsache aber bleibt der eine Bruder weggeduckt irgendwo in Weimar, Aussig oder Berlin verschollen, wo er den Bauhausideen nachträumt, während der ortsfeste Bruder unterrichtet, erzählt und durchgehend verlässlich ist.

Am Schluss bleibt der unruhige der beiden Helden in Schweden hängen und lässt den tapferen Schreiber zurück in seinem geordneten Wien, das nach dem Krieg wie selbstverständlich aufgebaut wird, wenn auch ohne jegliche Ideologie.

Wolfgang Böhm erzählt im Stile eines fiktionalen Journalismus von seinen Helden, wobei die Figur des verlorenen Bruders in Schweden auf einen fernen Onkel zurückgeht, der in der echten Familiengeschichte des Autors ebenfalls dort untergetaucht ist.

Die Thesen und Theorien der Zwischenkriegszeit sind mit unauffälligem Alltagsmaterial unterlegt, wodurch etwa der männliche Erzählstandpunkt in einer Weise herausgearbeitet ist, wie es heute im Zeitalter des gendergerechten Erzählens bereits als schmerzhaft einseitig empfunden wird. Indirekt reflektieren die Goldenen Zwanziger die Zwanziger des aktuellen Jahrhunderts, wo sich ja auch die Braven und Unruhigen die Waage halten in Ermangelung einer passablen Zukunftstheorie.

Manchmal kommt bei der Lektüre Schaudern auf, wenn hinter harmlosen Fassaden das Braune sich zur Geschichte zusammenbraut. Da tut sich dann jene Parallele auf, wenn hinter dem fossilen Treiben der Gegenwart sich das Dunkle des Klimaschocks in immer größeren Portionen zeigt. – So gesehen ist der Roman „Zwischen Brüdern“ ein Gegenwartsroman, der sich in seiner Veranlagung mit einem klugen Erzähltrick um hundert Jahre vertan hat.

Wolfgang Böhm, Zwischen Brüdern. Roman
Wien: Picus Verlag 2022, 272 Seiten, 24,00 €, ISBN 978-3-7117-2125-9

 

Weiterführende Links:
Picus Verlag: Wolfgang Böhm, Zwischen Brüdern
Wikipedia: Wolfgang Böhm

 

Helmuth Schönauer, 27-08-2022

Bibliographie

AutorIn

Wolfgang Böhm

Buchtitel

Zwischen Brüdern

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Picus Verlag

Seitenzahl

272

Preis in EUR

24,00

ISBN

978-3-7117-2125-9

Kurzbiographie AutorIn

Wolfgang Böhm, geb. 1963 in Wien, lebt in Wien.