Jörg Zemmler, leihtöne

Buch-Cover

Schon beim Einlegen der CD muss man stark nicken, auf dem Label steht nämlich neben dem Hinweis auf das Kultursponsoring ein Gedicht, das vier Mal von oben nach unten gelesen die Botschaft ergibt:

"immer / schön / brav / nicken". Auch sonst betreibt Jörg Zemmler die Kunst durchaus unkonventionell, seinen wirklichen Namen Zemmer hat er auf Zemmler geändert, weil irgendwelche Affen auf Plakaten immer seinen Namen verhunzt haben.

 

Die CD ?leihtöne? erscheint zwar gleichzeitig mit dem Buch ?leihworte?, distanziert sich aber von diesem und besteht darauf, als eigenes Kunstwerk gehandelt zu werden. Und ?leihtöne? sind ein Kunstwerk und was für eins! Der erste Eindruck lässt einen an einen Alm-Sound Marke unplugged denken, jemand spielt in großer Höhe ?lofi? Gitarre und singt unbeirrt und unbeeindruckt von jeglicher Umgebung.

Das Sprachmaterial kommt daher wie eine große Oper, manche Zeilen schwingen kurz in den Scheiß hinüber und kommen wieder zurück als pure Bedeutungsschwere. Wie beim Klavier Manches mit Pedal gespielt wird, spielt Jörg Zemmler manche Teile seiner Gedichte mit dem Rausch-Filter, wobei hier das Rauschen nicht weggenommen sondern mit Verve hinzugefügt wird. Als besonderer Höhepunkt empfindet der Zuhörer das Zentral-Fadeout, das an entlegenen Empfang guter Sendungen erinnert.

Die einzelnen Songs geben sich als flotte Ministrantenlieder, worin ein Lagerfeuer die letzten Strophen zu Wahnsinn geschmolzen hat, oder als höllische Chansons, die als Besenritte mit der Gitarre ausgeführt sind. Große Wörter ragen wie kitschige Berggipfel aus den Gitarrenriffs, einmal dringt ein Jonny Cash ans Ohr, der sich selbst verarscht, dann gibt es einen durchgedrehten Leonard Cohen, der singt: ?Die Tür ist auf, ich bleibe!? Für die Liebe herrscht grundsätzlich Reimzwang, was sich nicht auf Anhieb lieben lässt, wird formatiert. ?ich kenne dich nämlich aus dem Leben / ich werde dich einfach neu formatieren?.

Die Moritat vom Apfelstamm geht der Frage nach, inwiefern man Stammbäume mit Äpfeln vergleichen kann. Großes Schicksal schließlich widerfährt den zwei Herberts, der eine hat Krebs, der andere gerät in eine unerwartete Schwangerschaft, aber beide Herberts wissen nichts von einander. Nur dass der eine den anderen mit dem Auto anspritzt, als er durch eine Lache fährt, verbindet die beiden, und dass sie nebeneinander am Friedhof liegen werden, aber das wissen sie noch nicht. Den ganzen Tag kommt nämlich die Sonne nicht durch, das ist Schicksal. In der Schlusshymne wird schließlich der große E-Sound ausgepackt ?Wir sind die Kleinen und machen, was wir wollen!?

Jörg Zemmlers ?leihtöne? sind wild, anarchistisch witzig und meta-logisch, sie springen frontal in den Bauch wie ein gelungener Tritt und breiten sich dann intellektuell und poetisch bis in die hintersten Kopfzonen aus.

Jörg Zemmler: leihtöne, be- und vertontes.
Wien: edition ch 2004. CD, EUR 9,-. ISBN 3-901015-27-2.

 

Helmuth Schönauer, 13-01-2005

Bibliographie

AutorIn

Jörg Zemmler

Buchtitel

leihtöne

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2004

Verlag

edition ch

Preis in EUR

EUR 9,-

ISBN

3-901015-27-2

Kurzbiographie AutorIn

Jörg Zemmler, geb.1975 in Bozen, lebt in Seis am Schlern.