Ralf Rothmann, Die Nacht unterm Schnee

ralf rothmann, die nacht unterm schneeDie Kraft der Terrorregime besteht unter anderem darin, dass sie im Augenblick der Folter höchst persönlich werden. Die malträtierte Person empfindet den Schrecken in dem Glauben, dass er höchst persönlich für sie ausgewählt wird.

Ralf Rothmanns Roman „Die Nacht unterm Schnee“ baut eine Nachkriegsbiographie rund um eine Vergewaltigung auf, die1945 bei Kriegsende im Osten geschieht. Das Mädchen Elisabeth wird Opfer einer Schändung und wünscht, ewig vom Schnee bedeckt zu bleiben. Der Vergewaltiger ruft mehrmals „Devushka“ (161), was so viel wie Mädchen heißt.

Der brutale Vorgang wird in einer bedrückenden Sprache geschildert, die die Leser miteinbezieht. Die Wahrnehmungen der Gedemütigten sind als Hilferufe an ein Publikum gerichtet, das nach Jahrzehnten vor einem Buch sitzt, in dem diese Vergewaltigung immer wieder geschieht. Die sieben Kapitel des Romans sind nämlich „umrahmt“ und durchdrungen von jenem Lärm, der in einer Frequenz gesendet wird, mit der Knochen und Seelen brechen.

Vom Schrecken her gesehen ist diese Szene mit jener Erzählung zu vergleichen, als im Keller des stalinistischen Geheimdienstes der Henker sich noch mit den Delinquenten über wertvolle Literatur unterhält, ehe er den Genickschuss setzt. („Hotel der Schlaflosen“, 2020)

Das vergewaltigte Mädchen Elisabeth wird zu einer Heldin der deutschen Nachkriegszeit, seltsam gefühlserkaltet kann ihr nichts und niemand mehr etwas anhaben. Sie baut zusammen mit unzähligen Frauen die Bonner Republik auf, indem sie sich unauffällig durch die Zeit schlägt, abgebrüht und in Schockstarre.

Elisabeth arbeitet am Land in einem landwirtschaftlichen Betrieb in der Nähe der Kieler Förde, sie lernt ihren Mann Walter beim Melken kennen, zwei Kinder entstehen, das Ehepaar zieht in ein Kohlerevier und schlägt sich mit „Kohle machen“ durch, ehe es früh und abgehärmt stirbt. Übrig bleiben eine etwas eingeschränkte Tochter und ein Sohn, der Schriftsteller wird.

Dieser Schriftsteller beschließt nun ein Buch über seine Mutter in der Nachkriegszeit zu schreiben, aber der Roman erzählt nicht von seiner Recherchearbeit, sondern lässt das Leben Elisabeths aus der Sicht ihrer jüngeren Freundin als Ich-Erzählerin ans Tageslicht treten.

Die Reflexion ist in die Hände von Luisa übertragen, die als Bibliothekarin zuerst immer das Leben voraus-liest, ehe sie Teile davon selbst verwirklicht.

Ihre erste Liebe mit einem Arzt, der auf einem Romantik-Schiff in der Förde wohnt, hat sie zuerst gelesen, ehe sie anlässlich einer Ordination daraus eine haptische Geschichte macht. „Ich hinke mit dem Leben immer hinter der Lektüre hinterher“, sagt sie schelmisch, während die Porträtierte klagt:

Ich muss durch den meisten Unfug erst mal durch. (272)

Das Leben auf dem Gut ist peripher und trostlos. Die Heldin ist stets angewidert von der Gefühlskette Melken, Gewalt, Verstummen. Das ewige Melken der Tiere empfindet sie als pure Gewalt, wenn man das Weiße aus dem Euter herauspresst. Später wird ihr Mann Walter in der Kohlezeche ein ähnliches Gefühl haben: Mit Gewalt der Erde unter Tag die Kohle abzupressen.

Stumm zwischen Pisskübel und Melkkleidung wird das erste Kind gezeugt, das zweite Kind geht auf eine vertuschte Vergewaltigung durch den Gutsherrn zurück. „Altes Heu soll man nicht wenden!“ (269) Was nicht von selbst ans Tageslicht kommt, braucht auch nicht besprochen zu werden.

Völlig selbstverständlich macht sich der Melk-Mann daher über die erzählende Bibliothekarin her, als während der Geburt des zweiten Kindes seine Frau in der Entbindungsanstalt weggesperrt ist. Wenn sie schon tagsüber die Aushilfe beim Melken ist, kann sie auch in der Nacht aushelfen beim Sex. Es ist letztlich egal, ob dieser Vorgang schon einmal in einem Roman gestanden hat – die Bibliothekarin lässt die Nacht samt ihren Zutaten über sich ergehen. Sie ist bereits längere Zeit mit ihrem Richard verheiratet, der ihr alles verzeiht, weil es ja nur Literatur ist, was es zu verzeihen gilt.

Wo Schweigen eine Überlebensform ist, kann sich auch Kriminelles leicht einnisten. Elisabeth stiehlt die Perlen der dementen Gutsherrin und schenkt sie als Belohnung für Melken und Seitensprung der Bibliothekarin.

Als die Sache öffentlich wird, weil die Perlen plötzlich um den falschen Hals hängen, wird alles vertuscht und der Demenz in die Schuhe geschoben. Die Stimmung in dieser Nachkriegs- und Aufbauzeit ist geprägt von stillen Übereinkünften, Hinwegsehen und Verdrängen.

Der Mann der Erzählerin bringt es auf den Punkt:

Wir überschätzen das Unglück, es ist niemals so absolut wie die Angst davor. [...] Wir schaffen uns Lichtblicke und kleine Momente des Behagens sogar dann, wenn alles aussichtslos erscheint. (134)

Als die Eltern verstorben sind, erzählt sich für den Schriftsteller-Sohn die Geschichte wie von selbst. Eine bewährte Art der Bewältigung von Schrecken, Terror und kollektivem Unglück besteht noch immer darin, ein Buch daraus zu machen.

Ralf Rothmann hat mit der „Nacht unterm Schnee“ die Trilogie über seine Eltern und ihre Zeit abgeschlossen. („Im Frühling sterben“, 2015; „Der Gott jenes Sommers“, 2018) Die Fiktion ist wahrscheinlich die einzige Dokumentation, um dieses Epos halbwegs wahr zu erzählen. Zumindest gibt sich die erzählte Geschichte so, als wäre sie persönlich für die Leser erzählt worden, damit sie das Schicksal der erzählten Figuren erträglich erscheinen lassen.

Ralf Rothmann, Die Nacht unterm Schnee. Roman
Berlin: Suhrkamp Verlag 2022, 304 Seiten, 24,70 €, ISBN 978-3-518-43085-9

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Ralf Rothmann, Die Nacht unterm Schnee
Wikipedia: Ralf Rothmann

 

Helmuth Schönauer, 28-07-2022

Bibliographie

AutorIn

Ralf Rothmann

Buchtitel

Die Nacht unterm Schnee

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Suhrkamp Verlag

Seitenzahl

304

Preis in EUR

24,70

ISBN

978-3-518-43085-9

Kurzbiographie AutorIn

Ralf Rothmann, geb. 1953 in Schleswig, lebt in Berlin.