Selma Mahlknecht, Fö – Zernezer Feuer

selma mahlknecht, föHeimat kann eine Silbe sein, ein Wort, ein Ausruf, ein Seufzer!
Fö nennt Selma Mahlknecht nennt ihre Familiensaga über ihr neues Heimatdorf im Engadin. „Fö – Zernezer Feuer“. In einer Vornotiz wird das Nötigste gesagt. Im Jahr 1872 hat ein Feuer das Dorf zerstört, von den etwa 150 Häusern blieben nur 30 verschont.

Dieses „Fö“ ist einerseits der Tiefpunkt in der Geschichte des Dorfes am Zusammenfluss vom Inn mit dem Spöl. Fö teilt die Chronik ein in ein Vorher und Nachher. Aber Fö erweist sich auch als „die Initialzündung“ für den Aufbau und die Entwicklung des aktuell bestehenden Tourismusorts.

Die Autorin bleibt wohl für immer eine Zugezogene, das erlaubt einen freien Blick auf das Soziotop, obwohl der innerste Zutritt zum Stoff verwehrt bleibt. Denn nach einem uralten Ritus in den Alpen kann die erste Generation nicht heimisch werden.

Anlässlich der Gedächtnisfeier 150 Jahre Feuerkatastrophe wird die Autorin von der Gemeinde beauftragt, eine würdige Geschichte zu schreiben. Sie tut es mit Verve und der beglückenden Erkenntnis, dass so ein Dorf nur die Spitze der Existenz zeigt, der größte Teil liegt wie beim Eisberg unter dem Wasser der Erinnerung. So ist das mündliche Archiv in der Dorf-Tiefe weitaus größer als der Wortschatz, der für die lächerlichen Geschäfte des Alltagslebens gebraucht wird.

Die Sache mit dem rätoromanischen Wortschatz ist in der Saga elegant gelöst, indem die Kapitelüberschriften, Inschriften und in Stein gemeißelten Flüche und Dogmen in jener Sprache getätigt werden, die knapp Zweidrittel der 1500 Einwohner sprechen.

Dabei kommen fünf Generationen zu Wort, denen Wohl auch fünf „Feuerkapitel“ zugeordnet sind.

Mit dem kleinen Glossar im Anhang lassen sich die Schlüsselwörter aus dem Rätoromanischen übersetzen, ohne dass sie ihre Magie verlieren.

Laterne (15), Funke (29), Kerzen (47), Küche als Haus des Feuers (71) und Fackel (92) lassen die Generationen glühend zu Wort kommen. Während bei der Ururgroßmutter vor allem der Geruch von Verbranntem das Leben prägt, bringt die letzte Generation den Angstgeruch vor der Zukunft nicht aus der Nase. Angst vor der Matura, Angst vor der weiten Welt in Zürich, Angst, das Dorf für immer zu verlassen.

Jede Epoche drückt ein spezielles Problem auf die Schultern der Dorfbewohner. Zuerst gilt es, einen Eisenbahnanschluss herzustellen, damit die große Welt in die Ödnis kommt. Neben dem Tourismus kommt dann auch das Frauenstimmrecht, was die Männer ziemlich herausfordert. Noch Jahre später, als die Frauen schon längst im Dorf die Entscheidungen über die Geschäfte im Tourismus fällten, will ein verzagter Ehemann seine Frau im Verzweiflungsrausch entführen, weil sie ja ihm gehöre.

Und ein anderer Mann, der sich mit Kostümen und Verführungen im Grande Hotel auskennt, muss erleben, dass es für das Dorfleben andere Qualitäten braucht, als nur schön und groß daherzureden.

Manche gehen in die Schmuggelszene, andere finden Anschluss an die Bankenwelt. Ins Dorf kommen immer mehr Zugereiste, die freilich in zwei Klassen aufgeteilt sind.

Die Genfer bringen Geld und reißen sich Chalets unter den Nagel, die sie aber leerstehen lassen. Das Dorf wird zu einem Tresor für Fern-Investitoren. Die andere Gruppe kommt aus Portugal und arbeitet prekär. Wenn diese zur Arbeit nicht mehr zu gebrauchen sind, müssen sie ihre Quartiere stracks wieder verlassen.

So entwickelt sich eine feuerfeste Dorfkaste, die zumindest in den letzten 150 Jubel-Jahren gut mit diesem System gefahren ist.

Sagas haben es so an sich, dass sie mit einem warnenden Pfiff von der Oberfläche verschwinden wie Murmeltiere bei Gefahr. – Der Epilog ist mit Asche überschrieben. „Gesschichten, die nicht mehr erzählt werden, verfliegen wie Asche im Wind.“ (119) Die Erfolgsgeschichte des Dorfes kann also durchaus wieder in jenem Staub enden, aus dem sie nach dem großen „Fö“ entwachsen ist.

Selma Mahlknecht hat für einen heiklen Anlass eine tragfähige Erzählweise entwickelt. Heikel ist das Thema insofern, weil nicht alle an der Heimat teilnehmen dürfen. Wie bei einem Theaterstück braucht es allerhand zu-spielende Figuren, um den großen Gestus patriotisch über die Bühne wischen zu lassen.

Die Familiensaga ist hingegen eine austarierte Dramenform, in der die Wortlosen zu Wort kommen und die Sprech-Blender abgedunkelt werden. Wer genau ins Fö hineinhorcht, hört dieses apokalyptische Knistern, wie es in Tourismusdörfern zwischen dem Lärm der Saisonen auftritt.

Selma Mahlknecht, Fö – Zernezer Feuer. Eine Familiensaga
Bozen: Edition Raetia 2023, 123 Seiten, 22,00 €, ISBN 978-88-7283-871-6

 

Weiterführende Links:
Edition Raetia: Selma Mahlknecht, Fö – Zernezer Feuer
Wikipedia: Selma Mahlknecht

 

Helmuth Schönauer, 21-03-2023

Bibliographie

AutorIn

Selma Mahlknecht

Buchtitel

Fö – Zernezer Feuer. Eine Familiensaga

Erscheinungsort

Bozen

Erscheinungsjahr

2023

Verlag

Edition Raetia

Seitenzahl

123

Preis in EUR

22,00

ISBN

978-88-7283-871-6

Kurzbiographie AutorIn

Selma Mahlknecht, geb. 1979 in Meran, lebt in Zernez.