Reinhard Margreiter, Wohnen im Zeitalter der Mobilität

reinhard margreiter, wohnen im zeitalter der mobilitätDie Wohnung ist nach dem Blastoderm und der Kleidung unsere dritte Haut, in der wir leben. Die vierte wäre das politische Gemeinwesen. So ungefähr ist für das Ende des letzten Jahrhunderts das Curriculum der Erwachsenenbildung aufgebaut. Anhand der vier Häute können damit alle Probleme des adulten Menschen besprochen und fallweise gelöst werden.

Das Wohnen an sich ist zwar seit Jahrhunderten jenes Thema, das dem Denken und Philosophieren eine weite Bühne bietet, man denke nur an den berühmten Heideggersatz „Die Sprache ist das Haus des Seins“. Im gegenwärtigen Diskurs freilich handelt das Wohnen vom Schaffen von Wohnraum, der Materialisation von Kapital und einem vorläufigen Endzustand einer Gesellschaft, die in den Segmenten Tourismus und Migration ständig unterwegs ist.

Reinhard Margreiter streift mit seinem philosophischen Essay „Wohnen im Zeitalter der Mobilität“ das Thema anhand des Begriffsschwerpunktes „Medien und Medialität“ versus „Wohnung und Wohnen“. (14) Dabei werden beide Zustände angesprochen: die Wohnung als eine räumliche Institution, die letztendlich physisch „geräumt“ werden kann, und das Wohnen als Zustand des Denkens.

Der Essay ist raffiniert dichotomisch angelegt. Im oberen Teil des Buches zieht er sich als Konglomerat voller Überraschungen durch die Seiten, hier kommt das assoziative Denken zum Zug, das durchaus auch Leser ohne philosophisches Studium erfreut. Der untere Teil ist mit Zitaten unterlegt und entspricht wissenschaftlichem Arbeiten.

Wohnen lässt sich also vulgär lesen, wie ja auch meist vulgär gewohnt wird, und professionell, wie ja auch viele Professionen im wirtschaftlichen Segment des Wohnens stecken.

An mehreren Orten stellt der Autor Gliederungen auf, die dem Phänomen unter dem Eindruck strenger Ordnung ein besonders Rückgrat verleihen.

So werden etwa die vier Hauptzustände des Wohnens eingeteilt in „1. Zustand / 2. Befindlichkeit / 3. Gestaltung / 4. Beziehungsgeschehen“ (11). Auf diesem Denkfundament lassen sich einem Brettspiel ähnlich die intelligentesten Spielzüge durchführen.

Nach einer anderen Einteilung, die auf Lesewissen beruht, werden dem Themenkomplex die wichtigsten Persönlichkeiten samt ihren Schlüsselwörtern zugewiesen.

So ist etwa Paul Virilio für die Beschleunigung zuständig, Martin Heidegger für sesshaftes Wohnen, Gilles Deleuze für Nomadentum und Peter Sloterdijk für die Sphären. Anhand der Schlüsselbegriffe wird das Wohnen aufgerollt und mit der jeweiligen Philosophie der Denker injiziert.

Besondere Aspekte ergeben sich aus dem Wohnen mit Tieren, Wohnen als Bühne oder Wohnen als Korrespondenz.

Einen Schwerpunkt stellt dabei die Medienphilosophie dar, denn in einer Mediengesellschaft ist alles abhängig von Schein und Sein, ob nun die Domain als Wohnung angesehen wird oder der Prospekt einer Anlegerwohnung für ein Investment ausschlaggebend ist.

Aus den Kapitelüberschriften entwachsen überraschende Assoziationsmöglichkeiten. So sind die Begriffe von Heimat, Heimweg oder Heim nur denkbar in einem Wohnkontext, der sich ständig verändert. Das Nomadentum versinkt in einer „Bodenlosigkeit“. Die Sphären des Wohnens haben vielleicht die digitale Wohnmaschine im Auge.

So nebenher verweilt der Essay ausgreifend in den Gebieten Architektur, Baustil, Materialkunde und Finanzwesen. Mit der Zeit wird klar, dass es sich beim Wohnen um einen beeindruckenden Überbegriff handelt, der durchaus imstande wäre, eine Epoche zu beschreiben.

Im Schlusskommentar verweist Reinhard Margreiter noch darauf, dass Assoziieren nicht nur Erweiterung bedeutet, sondern auch Einschränkung. Er entschuldigt sich bei den Denkmeistern dafür, dass er sie durch Zitieren oft auf ein kleines Argument eingeengt hat, das zu vorschnellem Urteil geeignet ist.

Als Leser ist man von der Idee begeistert, die gesamte aktuell zur Diskussion stehende Philosophie auf einen Nenner zu bringen, indem man von der Warte des Phänomens „Wohnen“ aus alle Denkaufreger der letzten Jahrzehnte daraufhin abklappert, was sie wohl zum scheinbar trivialen Thema zu sagen hätten.

Reinhard Margreiter, Wohnen im Zeitalter der Mobilität. Ein philosophischer Essay
Basel: Schwabe Verlag 2022, 208 Seiten, 28,00 €, ISBN 978-3-7965-4633-4

 

Weiterführende Links:
Schwabe Verlag: Reinhard Margreiter, Wohnen im Zeitalter der Mobilität
Wikipedia: Reinhard Margreiter

 

Helmuth Schönauer, 02-11-2022

Bibliographie

AutorIn

Reinhard Margreiter

Buchtitel

Wohnen im Zeitalter der Mobilität. Ein philosophischer Essay

Erscheinungsort

Basel

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Schwabe Verlag

Seitenzahl

208

Preis in EUR

28,00

ISBN

978-3-7965-4633-4

Kurzbiographie AutorIn

Reinhard Margreiter, geb. 1952 in Reith / Alpbachtal, lebt in Imst.