Sirka Elspaß, ich föhne mir meine wimpern

sirka elspaß, ich föhne mir meine wimpernDer stärkste Satz eines Gedichtbandes ist meist der Titel. Nicht nur dass er im Bibliothekswesen ständig zitiert wird, denn die Ordnung in der Bibliothek geschieht durch Zitieren, oft drängt sich so ein Titel auch ins Langzeitgedächtnis vor und nistet als Gassenhauer.

Sirka Elspaß überschreibt ihren Gedichtband mit dem fröhlichen Selbstkommentar „ich föhne mir meine wimpern“. Darin ist mustergültig zum Ausdruck gebracht, was Lyrik an einem unauffälligen Tag auszulösen vermag. Es geht um den „lyrischen Höhepunkt“, an dem der berüchtigte Vogelschnabel das Ei durchstößt, oder ein Airbag aufgeht, um eine Lenker-Biographie zu verändern.

Verstärkt wird diese Zuführung eines Textes auf einen spontanen Höhepunkt durch die Dramatisierung des Layouts. Das Schlüsselereignis des Gedichtes ist jeweils fettgedruckt.

So gleichen die lyrischen Notate manchmal einer Kurzgeschichte, wenn das lyrische Ich einen Moment lang dramatisch im Scheinwerferlicht eigenen Überlegens steht, ehe es dann nach dem Spruch eines überzeugenden Urteils wieder die Szene verlässt.

Wie oft, wenn das erzählende Ich einen ironischen Ton anschlägt, beginnt die Chose mit der Geburt, in der sich das Außergewöhnliche des Individuums erstmals mit dem Banalen der Welt verbindet.

„als ich geboren werde erschrecke ich mich / vor meiner eigenen stimme / der arzt sagt / ich sei zu großem imstande / zum beispiel hunger zu haben / ich sage danke zur begrüßung / und gehe in den nächsten dönerladen“ (9)

In dieser schelmischen Aufarbeitung von Erziehung, Schule und Erwachsenwerden geht es weiter. Im Sound eines Bilderbuches stellt das Ich erst das Gesehene in Frage, um dann überraschende Denk-Volten zu schlagen.

„ein kind sitzt mit helm im kinderwagen / es hat keine lust mehr roller zu fahren / es fragt was schlimmer ist / beine zu brechen oder arme“ (10)

Zur beschleunigten Einstimmung auf das lyrische Geschehen empfiehlt es sich, das angeheftete Inhaltsverzeichnis als Prosageschichte zu lesen. Die sogenannten fetten Schlüsselsätze ergeben dabei eine Geschichte voller Heldentaten, Irritationen und Abschweifungen im Alltag.

Manches lässt sich als Rezept zur Verbesserung der Befindlichkeit spontan anwenden. Dabei wirken die ironischen Ratschläge als Wellnessprogramm aus einer einschlägigen TV-Serie oder als Aufpoppungen aus einer Ratgeber-App.

- „ich schreibe, weil ich denke, dass es mir nochmal nützlich sein könnte“ (13)
- „wie schnell schlägt wetter um“ (14)
- „du kannst nicht tiefer fallen als auf die matratze“ (27)
- „das hat meine mutter immer gesagt“ (33)

Tatsächlich wird die Mutter allmählich zu jener Leuchtperson, die mit einer Lichtquelle an Sprüchen vorausgeht. Freilich sind ihre Ratschläge nicht immer verlässlich, weil sie vermutlich selbst von einer eigenen Mutter ausgeleuchet wird. Jedenfalls sind zwei Sonderkapitel des Geschehens Mutter eins und zwei gewidmet, wobei sich die Mutter ständig verändert.

Jäh gelingt es der lyrischen Erzählerin, aus dem vorgegebenen Weg auszubrechen und abzuschweifen. Dabei ist weder auf die eigenen Sinnesorgane Verlass noch auf Ratschläge aus sogenannten Kulturkreisen (62).

Ob Originalmutter oder Abschweifung vom Mutterbild: Es bleibt eine Irritation, die mit einem wohlklingenden Begriff zusammengefasst ist. Die Sinnkrise tut sich letztlich auf, als sich das Ich wieder einmal weigert, nach Empfehlung zu leben. Die Verzweiflung mündet in der existentiellen Frage: „Mutter, wer macht mich jetzt?“ (69)

Wie alle Bücher, die vom Aufbruch ins Ungewisse handeln und die Abnabelung von der durchgeplanten Welt ansprechen, liefert auch das „Wimpernbuch“ eine Erkenntnis, die weit über die Gedichte hinausgeht:

„Niemand steht über den Dingen, wir stehen alle mittendrin. (71)

Sirka Elspaß „erzählt“ ihre Gedichte mit schnörkellosem Gestus. Die Weisheiten jagen einander rastlos durch das Textgebilde. Man müsste das Buch nach jedem Satz zuschlagen, um den Satz wirken zu lassen. Aber andererseits verlangt es das lyrische Konzept, dass ein Satz den anderen auslöscht, indem er unverblümt auf den vorhergehenden folgt. Apropos unverblümt: In einem eigenen Kapitel ist der Satz wie eine Stickerei an die Wand genagelt – „Es gibt Blumen, die kommen einfach so zwischen den Steinen hervor.“

Sirka Elspaß, ich föhne mir meine wimpern. Gedichte
Berlin: Suhrkamp Verlag 2022, 80 Seiten, 20,60 €, ISBN 978-3-518-43078-1

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Sirka Elspaß, ich föhne mir meine wimpern
Wikipedia: Sirka Elspaß

 

Helmuth Schönauer, 02-12-2022

Bibliographie

AutorIn

Sirka Elspaß

Buchtitel

ich föhne mir meine wimpern. Gedichte

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Suhrkamp Verlag

Seitenzahl

80

Preis in EUR

20,60

ISBN

978-3-518-43078-1

Kurzbiographie AutorIn

Sirka Elspaß, geb. 1995 in Oberhausen, lebt in Hildesheim.