Zvi Jagendorf, Die fabelhaften Strudelbakers

Buch-CoverManchmal ist der Beginn einer Geschichte so unglaublich, dass selbst die Figuren der Geschichte darüber den Kopf schütteln und sich fragen, ob es so etwas in der Literatur geben kann.

Im Roman von den fabelhaften Strudelbakers fährt ein Onkel des Protagonisten Wolfy als Toter mit der Straßenbahn durch Wien, es ist genau 1937 und ein Samstagabend. Die Reise des Toten ist symptomatisch für die Geschichte des Kontinents am Vorabend der Judenvernichtung durch die Nazis. Die Verwandten von Onkel Kalmann flüchten von Wien nach London und gelten dort als "Flichtlinge", dieser spöttische Ausdruck sagt es genau, was sie erwartet: Unwillkommenheit! Man tut zwar verbal sehr human, in Wirklichkeit aber ist hier niemand willkommen.

Allmählich arrangieren sich die Geflüchteten mit der neuen Umgebung, jedes Familienmitglied hat eine eigene Vorgangsweise, um die alte und neue Welt halbwegs in Überlappung zu bringen. So kann der Sprachunterricht im Neuhebräischen durchaus in eine sexuelle Einschulung ins Rotlichtmilieu münden, vor allem wenn das Sprachinstitut und das Entsaftungsinstitut im gleichen Stockwerk liegen.

Vater befällt plötzlich panische Angst vor der Arbeit und muss zur Arbeit begleitet werden wie einst als kleines Kind. Glasscherben lassen immer die Reichskristallnacht mitschwingen, und mittendrin versucht jemand in London einen Strudel aus längst vergangener Zeit zu backen.

Dieser Strudel ist überhaupt ein anderes Bild für die Geschichte, der Teig reißt ständig ein, und wenn nicht richtig gefettet wird, kriegt man ihn nicht vom Blech los. Aber mit dem Teig ist noch nichts gewonnen, er muss erst noch richtig gefüllt werden. Die Strudelbakers sind vielleicht die einzigen, die mit der Geschichte umgehen können.

Allmählich erzählen alle aus der Familie ihre makabere Geschichte. Tirol kommt dabei zu höheren Weihen, als an einer unscheinbaren Stelle des Daseins plötzlich ein Erinnerungsstück gesucht wird.

Frisch in der Erinnerung gestört ruft dabei eine Stimme aus dem Schlafzimmer mit dünner, blökender Stimme, die wie eine Tiroler Bergziege klingt: "In dem blauen Schuhbeutel!" (189) Am Schluss rennt ein anderer Verwandter durch die Stadt, dieses Mal ist es London, und der Reisende ist noch nicht tot, er hat sich den Stadtplan zur persönlichen Unterlage gemacht, auf der er jetzt mechanisch läuft.

Zvi Jagendorfs Familiensaga aus düsterer Zeit erzählt die Geschichte der Emigration mit herzlichem Sarkasmus.

Damals waren sie Flüchtlinge gewesen, dann Fremde und Evakuierte, Durchreisende mit Koffern, unterwegs nach Irgendwo. Jetzt waren sie Pendler, doch keiner von beiden würde je wieder nach Hause zurückkehren. (216)

Zvi Jagendorf: Die fabelhaften Strudelbakers. Roman. Aus dem Engl. von Verena von Koskull. [Orig.: Wolfy and the Strudelbakers, 2001].
Berlin: Aufbau Verlag 2004. 221 Seiten. EUR 18,90. ISBN 3-351-02997-7.

 

Helmuth Schönauer, 15-02-2005

Bibliographie

AutorIn

Zvi Jagendorf

Buchtitel

Die fabelhaften Strudelbakers

Originaltitel

Wolfy and the Strudelbakers

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2004

Verlag

Aufbau Verlag

Übersetzung

Verena von Koskull

Seitenzahl

221

Preis in EUR

EUR 18,90

ISBN

3-351-02997-7

Kurzbiographie AutorIn

Zvi Jagendorf, geb. 1936 in Wien, lebt in Israel.