Gabriele Weingartner, Léon Saint Clairs Abschied von der Unendlichkeit

gabriele weingartner, léon saint clairEin Flaneur ist an jedem Augenblick am Höhepunkt! – Diese potente Zuschreibung für einen Helden, der sich quer durch Jahrhunderte und Kontinente bewegt, ermöglicht es ihm, die jeweilige Gegenwart in jener Stimmung aufzunehmen, in der wir einen gelungenen Spaziergang in den Kies setzen.

Gabriele Weingartner hat bereits im 2019 erschienenen Roman „Léon Saint Clairs zeitlose Unruhe“ den 1780 geborenen Helden zu den Napoleonischen Kriegen, ins Bangkok des frühen 20. Jahrhunderts und auf die psychoanalytische Couch der Zeitlosigkeit geschickt. Für die logische Vorstellung lebt der kleinwüchsige Sympathieträger mit seiner Freundin Konstanze in Berlin.

Jetzt im zweiten Band folgt der „Abschied von der Unendlichkeit“, indem der vagabundierende Held in Chur sesshaft wird, nachdem er seiner Freundin in Berlin Geld geklaut hat und den unbeschwerten Lebenslauf fortsetzt.

Denn das ist das Bestechende dieses Léon: Er setzt sich als Figur über alle üblichen Erzählbeschränkungen hinweg und schafft eine eigene Welt, die irgendwo zwischen Robert Walser und Hermann Lenz angesiedelt ist. In Selbstreflexion sagt er am Schluss: „In der Literatur gab es seit jeher etwas, das ich nicht begreifen konnte, etwas, das mich empörte, verstörte, entsetzte, mich schluchzen, nicht schlafen und eigentlich nur sehr selten frohlocken ließ. War es der Abgrund zwischen Realität und Erfindung?“ (359) – Das Ideal eines solchen Lebens über dem besagten Abgrund ist das „schöne Schweben“. (265)

Im „realistischen“ Teil ist Léon in Chur und darf eine Lehre als Maßschneider aufnehmen. In dieser Erzählkonstellation wird der Roman zu einem beinahe paradigmatischen Erziehungsroman. Meister Tomasz Wrobel kann als klassischer Ausbilder gesehen werden, er unterrichtet nicht nur Schnitte, Proportionen, Stoffkunde und Nähte, er steuert auch jeweils Literatur bei, die aus der Ausbildung Bildung macht.

Léon stürzt sich als Ich-Erzähler begeistert in diese alte Welt, die „maßgeschneidert“ für ihn ist. Während er die Herrenanzüge studiert, erlebt er eine Ausbildung in Ästhetik, Politik, Kunstgeschichte und Erotik.

Die Erotik erfährt nach dieser Lesart die höchste Vollendung, wenn sie als Meisterbild an der Wand hängt oder in einem Tolstoi-Roman als Anna Karenina plastisch wird. Tatsächlich vergleicht der Erzähler seine bisherigen Erfahrungen mit Brüsten mit den weiblichen Brustdarstellungen in diversen Museen. Wie brisant aber selbst die gezähmte Erotik werden kann, zeigt sich an einem handfesten Krach zwischen geliebten Tagesfreundinnen, die übereinander herfallen, als sie jeweils erkennen, dass sie bloß Aktmodell gewesen sind.

Der Maßanzug ist das ideale Arbeitsgerät, um als Flaneur der Welt zu begegnen. Im Maßanzug laufen nicht nur Künste, Moden und Zweige des Designs zusammen, dieser Anzug schneidert die große Welt herunter auf die kleine des ihn tragenden Körpers. Der Stoff nimmt nicht Maß am Körper, sondern an der Welt.

In der beiläufigen Ausbildungslektüre sind allerhand Lesetipps für klassisch gebildete Lesende versteckt, so sollte man unbedingt die „Leute von Seldwyla“ lesen, wenn man die Schweiz verstehen will. Über mehrere Kapitel zieht sich auch die Lektüre von Wolfgang Hildesheimers „Marbot“ hin, worin es bekanntlich um die Auflösung einer Biographie im Dienste der Fiktion geht.

Léon ist naturgemäß äußerst interessiert an biographischen Strategien, die eine denotierte Zeitlosigkeit ermöglichen. Der Titel „Abschied von der Unendlichkeit“ verweist auf etwas Endliches, das womöglich erlischt, sobald es aufgeschrieben ist.

Lehrmeister Wrobel erzählt oft Geschichten, damit er sie loswird und sich ein anderer darum kümmern muss. Geschichten nämlich sind Aufträge, die man dem Gegenüber ins Herz pflanzt, ohne dass dieser sich wehren kann. Léon erfährt eine dieser Einpflanzgeschichten besonders drastisch, als er auf dem Weg nach Zürich ein paar Tage lang im Zug sitzt, welcher in einem Tunnel stecken geblieben ist. Er weiß noch Jahre später nicht, was von dieser Tunnelerfahrung angelesen und was selbst erfahren ist.

Obwohl der Held die letzten dreihundert Seiten kaum aus Chur hinausgekommen ist, ist er qua Lektüre und Maßschneiderei in der ganzen Welt herumgekommen. Religion, Politik, Zeitgeist: Alle Stoffe für eine Wochenzeitung „erlebt“ der Held in der Dosierung von Epochen.

Es wird für ihn Zeit, Abschied vom Meister zu nehmen, zumal die Maßschneiderei nach einer Inventur auf digitale Logistik umstellt. Diese Zeit ist nichts mehr für den Lebenskünstler, der zum Abschied bittet, ob er nicht Botschafter einer Epoche sein darf.
Die verlässliche Schweizer Eisenbahn wird den Helden außer Landes bringen, wo hoffentlich Anschlusszüge fahren nach Berlin, wo es vielleicht mit Konstanze weitergeht, wenn die Sache mit dem Geldklau vergessen ist. Zeitlosigkeit ist ein Fortsetzungsroman.

Gabriele Weingartner erzählt ein ganzes Bücherregal voll Lektüre, die zu einem erfüllten Leben führen kann, wenn man sich ohne Geldsorgen in Chur niederlässt. In der Literatur gibt es keine Geldsorgen, denn ihre Währung ist die Phantasie. Womit wir wieder bei diesem feinen Erzählton wären, der uns aus dem „Gunten“ von Robert Walser oder dem „Kutscher“ aus Hermann Lenz entgegenweht. Gabriele Weingartners „Léon Saint Clair“ ist ein Erzählblutsverwandter von diesen.

Gabriele Weingartner, Léon Saint Clairs Abschied von der Unendlichkeit. Roman
Innsbruck: Limbus Verlag 2022, 363 Seiten, 22,00 €, ISBN 978-3-99039-223-62

 

Weiterführende Links:
Limbus Verlag: Gabriele Weingartner, Léon Saint Clairs Abschied von der Unendlichkeit
Wikipedia: Gabriele Weingartner

 

Helmuth Schönauer, 08-12-2022

Bibliographie

AutorIn

Gabriele Weingartner

Buchtitel

Léon Saint Clairs Abschied von der Unendlichkeit

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Limbus Verlag

Seitenzahl

363

Preis in EUR

22,00

ISBN

978-3-99039-223-62

Kurzbiographie AutorIn

Gabriele Weingartner, geb. 1948 in Edenkoben, lebt in Berlin.