Felix Philipp Ingold, Die Zeitinsel
pätestens seit Daniel Defoe gilt ein entlegenes Eiland als ideale Erzählfläche, um darauf Lebens- und Weltentwürfe spielen zu lassen. Wenn diese Insel dann noch einer definitiven Zeit entrückt wird, indem quasi jede Zeit auf der Insel Platz hat, dann erweist sich die „Zeitinsel“ als höchst verdichtetes Material, das astrophysikalisch vielleicht an ein schwarzes Loch herankommt.
Felix Philipp Ingold konstruiert seine Zeitinsel als Kunstfläche, auf der sich Projekte, Biographien, Spintisierereien und Träume installieren lassen. Im Untertitel nennt er dieses Unterfangen „Stationenbericht“, es könnte also mit einer kultur-sportlichen Veranstaltung verglichen werden, auf der man sich während des Rundlaufs allerhand Stempel ins Lektüreheft stempeln lässt als Beleg, dass man die Stationen aufgesucht hat.
Acht dieser Stationen sind einem Schicksals-Typus gewidmet, im vorletzten Kapitel werden diese acht Ideal-Biographien in einem Exkurs verdichtet zur Überlegung:
Und wenn die Antwort vor der Frage käme? (215)
Damit spielt der Autor auf das Henne-Ei-Dilemma an, das sich durch die Künste zieht. Ist das Kunstwerk eine Antwort auf ein Stück Überlebensrealität, oder richtet sich die Überlebenskunst, wie schon der Name sagt, an künstlerischen Kriterien aus?
Im Album als Anhang werden diese Fragen noch einmal mit Schwarzweiß-Fotos angerissen, wobei die Bildunterschrift sich selbständig macht und einen eigenen Richtstrahl aussendet.
Die einzelnen Kapitel ordnet man am besten den Hauptfiguren zu, die sich die Zeitinsel für ein Projekt zu eigen machen und diese klassisch rund wie ein Amphitheater bespielen.
# Der Oligarch weiß nicht, wohin mit dem Geld, und kauft sich eine Insel, von der er nur weiß, dass sie ihm zu klein sein wird. Schon die ersten Vermessungen mit Drohnen zeigen, dass jede Insel zu klein ist, wenn wirklich viel Geld im Spiel ist. Der Oligarch ohne Nachkommen und ringt sich am Ende des Projekts zum Satz durch: Ich bin!
# Ein Filmemacher benötigt die Insel, um darauf einen Film zu drehen, der alle Grenzen sprengt. Im Sinne des Meisters Antonioni versucht er die Bilder unter einer Kuppel einzufangen und zu einem Weltgemälde zu verdichten, dessen Ruhm unvergänglich sein soll. Der daraus resultierende Film besteht schließlich aus lauter „Stills“, der Volksmund würde dazu gerne Dia-Show sagen.
# Ein Literat ist wie so viele um diese Zeit auf der Suche nach Stoff für das Sommerloch. (73) Da trifft ihn die Einladung des Multimillionärs Onassis mitten ins Herz des Schreibtisches. Das Glück steigert sich, als der Mäzen tatsächlich mit seiner Jacht vorbeischaut und nichts im Sinn hat, als seinen Namen für Kunstprojekte zu spenden. Für den Literaten ist zwar jetzt das Sommerloch gestopft, aber noch immer kein Kunstwerk vorhanden. Er weiß nämlich nicht, wie man diese Inszenierung in Stoff umsetzt. Bislang hat er immer den Stoff in Richtung Inszenierung bewegen müssen. Reichtum des Mäzens und Romanentwurf des Künstlers bleiben jedenfalls Fragment.
# Eine Sekretärin wird unter dem harmlosen Titel Schreibkraft von den Nazis ins besetzte und geschändete Griechenland geschickt. Dort soll sie in der Nähe des Wehrmachtschriftstellers Erhart Kästner arbeiten und zu Diensten sein, wenn dieser den Stoff der Antike mit der attischen Insellandschaft zu einem Propagandatext verschmelzen lässt.
# Eine Malerin hat die Insel zu ihrem Arbeitsplatz auserkoren, weil sie an dem Projekt „Endstation Sehnsucht“ möglichst authentisch arbeiten will. Sie leidet freilich unter dem Handicap, dass es unter diesem Titel schon ein Theaterstück von Weltformat gibt. Da kommen ihre Skizzen nicht hin, sosehr sie diese auch nach echten Fotos malt. Man sollte solch gute Titel verbieten, damit auch noch andere Künstler sich daran abarbeiten können.
# Ein Bildungsreisender reist abgelöst von Form und Zeit durch die Künste und soll für den Zaren in den osmanischen Gefilden einen provisorischen Sommersitz ausfindig machen. Als sogenannter „Junischnee“ (161) auf der Insel fällt, nimmt er das als Gottesbeweis, zumal er für den Zaren die Welt und ihre Orte unter religiösen Aspekten casten muss.
# Ein Wandermönch benützt seine Verkleidung, um davon abzulenken, dass er wahrscheinlich primitiver Inseltourist ist. Unter der Verkleidung gibt er sich als Hobby-Ornithologe aus, der einen verschollenen Leichnam suchen soll. Er findet seinen toten Kollegen und gibt eine entsprechende Todesnachricht an die Lokalzeitung.
# Eine Wunschfrau für Regie antiken Theaters gibt sich als „Gradiva“ aus und inszeniert eine pompejanische Tragödie, deren Ausgang überall nachzulesen ist. Während der „Einrichtung“ des Stückes wird der jüngste Forschungsstand zu zeitlosen Themen und Mythen diskutiert. Auch der Diskurs über ein zeitloses Thema ist selbst zeitlos.
Felix Philipp Ingold „tobt“ sich in allen Genres aus, um die Zeitinsel mit Diskurs in Erregung zu bringen. Dabei ist der Zugang vielleicht äußerst pragmatisch. Statt die Werkstattnotizen in einem chronologischen Tagebuch unterzubringen, versetzt er sie auf eine Insel und weist ihnen exemplarisch die wichtigsten Genres des Kunstbetriebes zu.
Felix Philipp Ingold, Die Zeitinsel. Ein Stationenbericht in neun Episoden, Bildalbum
Klagenfurt: Ritter Verlag 2022, 250 Seiten, + Album, 24,00 €, ISBN 978-3-85415-638-3
Weiterführende Links:
Ritter Verlag: Felix Philipp Ingold, Die Zeitinsel
Wikipedia: Felix Philipp Ingold
Helmuth Schönauer, 08-07-2023