Gerda Hofreiter, Verstoßen

gerda hofreiter, verstossen„Wer sind die „Helden“ der Geschichten? Weil im Gau Tirol-Vorarlberg relativ wenige Juden lebten, ist es möglich, einen kompletten Personenkreis zu erfassen und damit statistische Aussagen zu treffen. So kann man auch von einer leicht lesbaren Prosopografie sprechen. Es wurde ein Sample ausgewählt, das sich durch Ort und Zeit definiert und das nun 101 Personen umfasst …“ (S. 11)

Gerda Hofreiter erzählt in ihrem zeithistorischen Sachbuch von der Geschichte und dem Schicksal von 101 jüdischen Tiroler und Vorarlberger Kindern und Jugendlichen während der Zeit der Herrschaft des Nationalsozialismus in Österreich, die sie in einen breiteren historischen Kontext einbettet.

Im ersten Abschnitt des ersten Teils der Darstellung werden die Hintergründe jüdischen Lebens in Tirol und Vorarlberg bis ins Jahr 1938 nachgezeichnet, das sich in Innsbruck seit dem Mittelalter nachweisen lässt. Das Rabbinat für Tirol und Vorarlberg hingegen hatte seinen Sitz über Jahrhunderte in Hohenems bevor es 1914 nach Innsbruck wechselte. Neben der Entwicklung der jüdischen Bevölkerung in dieser Region, den Wohnorten der Kinder, dem religiösen Leben und Gemeinschaftsleben um die Synagoge werden auch die zionistischen Vereine vorgestellt, die speziell in Innsbruck eine wichtige Rolle gespielt haben.

Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit dem Jahr 1938, der für die jüdische Bevölkerung eine tragische Zäsur bedeutete. Es war der Beginn der systematischen Ausgrenzung aus dem öffentlichen Leben, das sich in Schulalltag der Kinder ebenso zeigte wie in der fortlaufenden Entrechtung und Beraubung der jüdischen Bürger. Weitere Themen sind die Folgen der Nürnberger Rassengesetze für Kinder mit einem jüdischen Elternteil, die Abschiebung polnischer Juden, die Pogromnacht am 9. November in Innsbruck.

Im dritten Abschnitt „Flucht oder Vertreibung, Vernichtung oder Neuanfang: die Fluchtländer“ werden die verschiedene Länder auf dem europäischen Festland, Großbritannien, Palästina, den USA und anderen Überseeländer beleuchtet, in die Juden aus Tirol und Vorarlberg geflohen sind. Ein letzter Abschnitt wirft einen kurzen Blick auf die Beziehung der überlebenden Juden zu Österreich und Tirol nach dem Ende der Nazi-Herrschaft.

Der zweite und große Teil der Darstellung widmet sich den Biographien von 101 jüdischen Kindern und Jugendlichen und ihren Familien aus Tirol oder Vorarlberg unter denen sich bekannte und unbekannte Namen finden lassen, deren Schicksal und Leiden in das Bewusstsein der Gegenwart zurückgeholt wird. Es sind die Biographie von Kindern aus Künstlerfamilien, von Kaufhausbesitzern, Beamten, Ärzten, Offizieren im 1. Weltkrieg, Professoren u.a., denen es nach dem Krieg gelang, in den verschiedensten Teilen der Welt und auch in Tirol Karriere zu machen.

Gerda Hofreiters biographisches Geschichtsbuch bietet einen wichtigen Beitrag, um das Schicksal dieser Menschen und die Verbrechen dieser Zeit in Tirol und Vorarlberg nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Der historische Einleitungsteil zeichnet das Umfeld des jüdischen Lebens in Tirol und der Zeit des Nationalsozialismus verständlich wieder, in das sich die umfangreichen Biographien einbetten lassen.

Ein überaus lesenswertes und wichtiges Buch, das durch seine klare Struktur, sein üppiges und ausgewähltes Bildmaterial über einen dunklen Teil der Tiroler und Vorarlberger Regionalgeschichte informiert.

Gerda Hofreiter, Verstoßen. Die Wege der jüdischen Kinder und Jugendlichen aus dem Gau Tirol-Vorarlberg 1938–1945, 128 sw und 43 farb. Abb.
Innsbruck: Tyrolia Verlag 2023, 376 Seiten, 35,00 €, ISBN 978-3-7022-4114-8

 

Weiterführender Link:
Tyrolia Verlag: Gerda Hofreiter, Verstoßen

 

Andreas Markt-Huter, 18-01-2024

Bibliographie

AutorIn

Gerda Hofreiter

Buchtitel

Verstoßen. Die Wege der jüdischen Kinder und Jugendlichen aus dem Gau Tirol-Vorarlberg 1938–1945

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2023

Verlag

Tyrolia Verlag

Seitenzahl

376

Preis in EUR

35,00

ISBN

978-3-7022-4114-8

Kurzbiographie AutorIn

Mag. Gerda Hofreiter studierte Geschichte an der Universität Innsbruck und war Lehrerin an Tiroler Volks- und Hauptschulen. Sie veröffentlichte Bücher und Aufsätze zu den Themen Flucht und Vertreibung vor und während des Zweiten Weltkriegs.